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Uttar Pradesh ist mit circa 200 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste, aber auch der am wenigsten entwickelte Staat Indiens. Es herrschen Armut, Gewalt und Korruption. Als Sampat Pal Devi, die Tochter eines Viehzüchters der untersten Kaste, mit 16 Jahren sah, wie ein Mann seine Ehefrau erbarmungslos schlug, griff sie ein und wurde dann selbst zum Opfer von Gewalt. Von diesen Ereignissen erschüttert, kehrte sie am darauffolgenden Tag mit fünf weiteren Frauen zum Haus des Mannes zurück und verprügelte den Bauer mit Bambusstöcken. Das Ereignis gilt als die Geburtsstunde der Gulabi Gang, einer sozialen Bewegung für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit. Mit unkonventionellen, aber effektiven Methoden setzt sich Gang in pinke Saris gehüllt gegen die Zwänge des Patriarcharts zur Wehr. Mittlerweile gehören schon über 200.000 Mitglieder zur Gulabi Gang.
Die intensive Beschäftigung mit der revolutionären Gruppierung aus Indien legte den Grundstein der Forschung für das Zeppelin-Projekt von Katharina Bohlenz (CME), Isabell Fries (SPE), Kira Leopold (CME), Sophie von Weitz (SPE), Amélie Wieczorek (PAIR) und Kelly Wildfeuer (CCM). Am Beispiel der Gulabi Gang untersuchten die Jungforscher, aus welchen Gründen Frauen in sozialen Bewegungen agieren.
Welche Faktoren verursachen die Anstoßmomente, wegen derer sich Frauen in Schwellenländern an sozialen Bewegungen beteiligen? Um einer Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, setzten die Studierenden auf eine qualitative, literaturbasierte Datenerhebung. Unter anderem traten sie mit der pakistanisch-irischen Journalistin Amana Fontanella-Khan, der Autorin des Buches „Pink Sari Revolution“ in Verbindung. Sie hatte die Gulabi Gang durch ihr Buch global bekannt gemacht und ist mittlerweile Ehremmitglied der pinken Revolutionärinnen. Weiterhin führten die Forscherinnen Fokusgruppen-Interviews mit Personen, die in Indien bei NGOs gearbeitet haben. Im Rahmen dieser moderierten Gruppendiskussionen, bei denen eine homogene Gruppe anhand eines Leitfadens gemeinsam ein bestimmtes Thema erörtert, versuchten sie mehr über den Blick von außen auf Antsoßmomente für soziale Bewegungen in Indien herauszufinden. Dabei beschränkten sie sich zunächst auf die drei möglichen Faktoren Medien, Bildung und Non Profit Organisationen.
Das allerdings stellte die jungen ZU-Forscher schon bald vor Probleme: In den armen Gegenden von Uttar Pradesh haben die wenigsten Zugang zu Medien und Bildung. Deshalb wurden diese Untersuchungspunkte bald zugunsten einer passenderen Fragstellung über Bord geworfen: „Wie soll eine indische Frau wissen, dass andere Frauen in der gleichen schwierigen Situation sind wie sie selbst? Wie kann sie sich organisieren? Welche bereits bestehenden Netzwerke stehen ihr zur Verfügung? In Indien gibt es eine Non Profit Organization pro 394 Einwohner, sie sind stark in der indischen Gesellschaft implementiert und können so erheblichen Einfluss auf die Bewohner ausüben“, erklärt Sophie von Weitz. Aus dieser Beobachtung stellte die Gruppe folgende Hypothese für ihre weitere Forschung auf: „Bildung und Medien sind notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingungen für die Erhebung von sozialen Bewegungen. Entscheidend ist der Anstoß von außen, den wir in der Wirkung von NGOs auf die indische Gesellschaft sehen.“ Hierbei beschränken sie sich auf World Polity NGOs und dabei noch einmal auf die Subgruppe Transnational Social Movement Organizations, deren Ziel sozialer und politischer Wandel ist.
Bei der Entwicklung eines theoretischen Erklärungsmodells für ihre Forschung bewiesen die Studierenden Mut zu Neuem. Die sozialpsychologische Theorie relativer Deprivation, derzufolge Menschen zum Mittel des Protest greifen, wenn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß ist, erschien ihnen nicht vollständig, da nicht jede unaushaltbare Situation Protestbewegungen auslöst. Auch die Ressource Mobilisation Theory, die die Protestakteure als rational handelnde Indivuduen und Kollektive begreift, war ihnen nicht Erklärung genug. Aus diesem Grund entwickelten sie ausgehend von dem beobachteten Phänomen ihre eigene Theorie: „Der von uns entwickelte Bewegungszyklus ist das Herzstück unserer Forschung“, betont Sophie von Weitz stolz.
Kollektive Identität, eine organisationale Struktur und gemeinsame Werte, aber vor allem auch den Einfluss von außen, gelten als Anstoßmomente für die Entstehung sozialer Bewegung. Die Zeppelin-Forscherinnen erkennen die Beziehung zwischen sozialen Bewegungen und NGOs als einen sich selbst reproduzierenden Zyklus innerhalb eines globalen Bewegungsnetzwerks an. Der Übergang zwischen beiden Organisationsformen sei häufig fließend, da es durch eine Entwicklung hin zu mehr Struktur häufig zu einer ‚Verngoisierung‘ – ein Neologismus, der die Institutionalisierung von informellen Netzwerken mit politischer oder sozialer Motivation beschreibt - von sozialen Bewegungen komme. Dadurch haben soziale Bewegungen die Möglichkeit, transnational zu agieren, und gewinnen größere Aufmerksamkeit sowie mehr Handlungsspielraum. Durch die gewonnene Handlungsmacht können sie auf die Bevölkerung einwirken und neue soziale Bewegungen anstoßen.
Die Theorie der Studierendengruppe soll als Anstoß für weitere Forschungsprojekte dienen. „Wir glauben, dass der Weg von Pink Sari bis hin zum Bewegungszyklus ein langer und interessanter Weg war, der noch nicht am Ende ist. Die Gulabi Gang hat unseren Horizont erweitert“, resümiert Sophie zum Schluss der Präsentation.
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Titelbild: Lecercle / Flickr.com
Bilder im Text: www.arindam-mukherjee.com;
Pink Sari Revolution / Zeppelin Universität