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Anil K. Jain studierte an der LMU München Politikwissenschaften, Psychologie und Soziologie und promovierte bei Ulrich Beck zum Thema „Politik in der (Post-)Moderne“. Danach arbeitete er in verschiedenen Forschungsprojekten – ebenso ist er als Publizist sowie im künstlerischen Bereich aktiv. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind unter anderem die sozialen Transformationsprozesse postindustrieller Gesellschaften, Modernisierung und Globalisierung, Reflexivität und Innovation. Aktuell leitet er zusammen mit Professor Dr. Manfred Moldaschl den Forschungsverbund „Anti-Effizienzlogiken: Reflexiv-nachhaltige Perspektiven auf Interaktionsarbeit am Beispiel Pflege“.
Wann werden wir alle von Robotern gepflegt, Herr Jain?
Dr. Anil Jain: Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Solange es aber noch Menschen gibt, deren Arbeitskraft so „billig“ ist, dass es teurer wäre, Pflegeroboter einzusetzen, wird das sicher in absehbarer Zeit nur ein „Privileg“ von Wohlstandsgesellschaften mit hohem Lohnniveau sein. Ganz zu schweigen davon, ob das wünschenswert wäre. Wirklich Wohlhabende werden es möglicherweise auch in Wohlstandsgesellschaften nie wollen.
Automatisierung und Digitalisierung führen zu einem radikalen Wandel der Arbeitswelt: Wie kann man sich diesen Wandel im Pflegesektor vorstellen?
Jain: Man sollte sich diesen Wandel, so wie er überwiegend stattfindet, als eine Verschärfung der Probleme in diesem Sektor vorstellen. Einem Auto ist es egal, ob es von Fabrikarbeitern oder Industrierobotern montiert wird. Einem Patienten/einer Patientin, der/die vielleicht ohnehin unter sozialer Isolation leidet, wird es vielleicht nicht egal sein, ob eine Pflegekraft oder ein Pflegeroboter ihn/sie versorgt, um auf die obige Frage zurück zu kommen. Und wenn Pflegekräfte durch technische Mittel „unterstützt“ werden, sie aber auf der anderen Seite immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit bewältigen müssen, so verschärft das nur die ohnehin immense Belastungssituation. Hinzu kommen einerseits Probleme der Sicherheit und des Vertrauens und andererseits Probleme der Privatsphäre und Kontrolle.
Woran liegt es, dass dabei häufig die Bedürfnisse der Patienten und Pflegekräfte zu
kurz kommen?
Jain: Es liegt, wie wir meinen, an der Dominanz von einseitigem Effizienzdenken. Auch der Gesundheitssektor ist stark kostengetrieben. Auf der Strecke bleibt dabei eben oft die Gesundheit – nicht nur der pflegebedürftigen Patienten, sondern auch des Pflegepersonals. Ganz zu schweigen von Fragen wie Zufriedenheit, Glück und Selbstbestimmung etc.
Führt das nicht automatisch auch dazu, dass es an Vertrauen in Künstliche Intelligenz mangelt?
Jain: Man kann Intelligenz gar nicht genug misstrauen – schon gar nicht künstlicher.
Als Antwort wollen Sie sogenannte „Anti-Effizienzlogiken“ in die Arbeit an und mit Menschen integrieren. Was bedeutet das konkret für den Alltag in der Pflege?
Jain: Es bedeutet, dass wir versuchen wollen, auch anderen „Logiken“ als dem Effizienzprinzip ihr Recht zu geben: Affektlogiken, Beziehungslogiken, Nachhaltigkeitslogiken, Innovationslogiken, Verteilungslogiken etc. Diese „Logiken“ möchten wir dadurch stützen, dass wir sie bewusst bei Überlegungen und Technologien zur Arbeitsorganisation mit einbeziehen.
Was genau untersuchen Sie und wie lautet das Ziel des Forschungsvorhabens?
Jain: Auf der Basis unserer Konzepte der polychromen Nachhaltigkeit und der Anti-Effizienz werden im Projekt technische Lösungen entwickelt, erprobt und evaluiert (ein reflexiv-nachhaltiges Logistiksystem mit Anbindung an eine Emotionserkennung sowie ein Software-Tool zur Unterstützung reflexiver Entscheidungsfindung). Es gibt dabei nicht ein Ziel, sondern viele Ziele. Aber wenn Sie danach fragen, was aus meiner Perspektive das wichtigste Ziel ist, dann würde ich sagen: dass wir Wege aufzeigen, wie man Glück „optimieren“ kann. Wir entwickeln im Projekt also eigentlich (soziale) „Glücksmaschinen“.
Sie wollen unter anderem eine Emotionserkennungs-App entwickeln. Wie könnte sie aussehen und eingesetzt werden?
Jain: Es handelt sich bei AnEffLo um einen Forschungsverbund, der von unserem Team koordiniert wird und finanziert ist durch Fördergelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds). Beteiligt sind als Forschungspartner die Universität Freiburg (Mirjam Körner und ihr Team von der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie) sowie als Entwicklungspartner die Firmen VIOM (Berlin) und minnt (Unterhaching). Letztere entwickeln unter anderem die Emotionserkennungs-App. Diese soll wichtiges Feedback zur Stimmungslage von Patienten einspeisen. Für unseren Praxispartner, die Deutsche Fachpflege, ist das ein sehr wichtiger Ansatzpunkt zur Verbesserung der Pflegeinteraktion.
Wo sehen Sie konkrete Anwendungsmöglichkeiten über den Pflegesektor hinaus?
Jain: Anti-Effizienz ist in allen Bereichen entscheidend, wenn man nicht in die Fallen einseitigen (und meist kurzsichtigen) Effizienzdenkens tappen will. Dies zeigt sich insbesondere an der aktuellen Corona-Krise. Man könnte sie deshalb auch als eine Effizienz-Krise bezeichnen. Zumindest aber bringt sie gnadenlos die Schwächen und Paradoxien der Effizienzoptimierung hervor. Dabei geht es nicht nur um den problematischen Abbau von Bettenkapazitäten oder bei der Bevorratung wichtiger Schutzausrüstung. Es geht auch um die einseitige Konzentration auf nur einen Aspekt: die Infektionseindämmung. Soziale und psychologische Aspekte finden zum Beispiel viel zu wenig Beachtung. Wir hoffen, dass die Projektergebnisse so ausfallen, dass wir „Muster“ für andere Bereiche bereitstellen können, die helfen, andere Logiken (auch im Sinne der Resilienz) zu stärken.
Welche Herausforderungen ergeben sich nun für das Projektteam und das Forschungsvorhaben angesichts der Corona-Pandemie?
Jain: Wir haben die Herausforderung, uns davon möglichst wenig beeindrucken zu lassen, auch wenn das natürlich schwerfällt. Im Bereich unserer Forschung – wo wir teils auch mit beatmeten Patienten in der Intensivpflege in Kontakt kommen werden – ändert sich eigentlich eher wenig. Hier galt schon immer: Hygiene und Schutz vor Ansteckung haben absolute Priorität. Da das bei unserem Praxispartner so ist, gab es bisher so gut wie keine Corona-Fälle, weder unter Patienten noch beim Pflegepersonal. Hauptproblem ist, dass der Stress sich für die Pflegeeinrichtungen noch vergrößert hat, vor allem durch Beschaffungsprobleme bei der Ausrüstung mit Masken und Schutzkleidung. Und die Patienten leiden aufgrund der aktuellen Bestimmungen unter Isolation. Wir werden aber ohnehin erst in etwa einem halben Jahr mit der eigentlichen empirischen Phase beginnen. Wir sind optimistisch, dass sich die Situation bis dahin entspannt haben wird. In jedem Fall halten wir aber einen Plan B (und C) vor, der uns die Durchführung der Forschung ermöglicht, auch wenn sich die Lage wieder zuspitzen sollte. Mit dieser Planung sind wir aktuell beschäftigt.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm