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Bundestagswahl

Ein Ergebnis - viele Fragen

Merkel könnte für die Nach-Merkel-CDU sogar ein noch größeres Problem sein als für die SPD und die Grünen.

Professor Dr. Joachim Behnke
Lehrstuhl für Politikwissenschaft
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Joachim Behnke

    Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Sein Forschungsschwerpunkte liegen auf Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.

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Bei der Bundestagswahl sind rund 15% der Stimmen, das entspricht fast sieben Millionen Wahlberechtigten, unberücksichtigt geblieben. Sollte man vor diesem Hintergrund über die Abschaffung bzw. Abschwächung der 5%-Hürde nachdenken?


Professor Dr. Joachim Behnke: Man sollte nicht jedes Mal, wenn ein bestimmtes Ergebnis nicht im Sinne einer Institution ausfällt, sofort darüber nachdenken, diese Institution zu modifizieren. Die 5%-Hürde hat sich grundsätzlich bewährt. Eine vollständige Abschaffung würde die Koalitionsbildung erheblich erschweren. Allerdings besteht ein gewisses demokratietheoretisches Problem darin, dass die Wähler der Parteien, die an der Hürde scheitern, ihre Stimme sozusagen verschwendet haben. Dies setzt Anreize zu strategischem Wahlverhalten, was auch angesichts der Rolle von Wahlumfragen bezüglich der Entscheidungsfindung nicht unproblematisch ist. Was ich daher für sinnvoll halten würde, wäre ein Nachdenken über eine Ersatzstimme bzw. Zweitpräferenzstimme, die dann zum Zuge käme, wenn die Partei, die man mit der Erstpräferenz gewählt hat, an der 5%-Hürde scheitert.


Im Falle einer Großen Koalition wäre die Opposition wichtiger parlamentarischer Minderheitenrechte beraubt: Sie könnte keine Untersuchungsausschüsse einberufen, keine Normenkontrollverfahren veranlassen und EU Recht nicht mehr vor dem EuGH prüfen lassen, weil sie das nötige Viertelquorum nicht erreicht. Wäre das eine Bedrohung für die Demokratie?


Behnke: Auch hier gilt: Man sollte Regeln, die grundsätzlich ihren Sinn und ihre Berechtigung haben, nicht vorschnell abschaffen. Allerdings sind die Kontrollmöglichkeiten der Opposition bei einer großen Koalition in der Tat deutlich reduziert, zumindest in formaler Hinsicht. Die bestehenden Regeln sind insofern sinnvoll, da es im Regelfall nicht so sein sollte, dass jede kleine Oppositionspartei im Alleingang diese Möglichkeiten in Anspruch nehmen kann. Wenn aber die gesamt Opposition zusammen dazu nicht mehr in der Lage ist, haben wir ein Problem. Man sollte die Quoren also nicht pauschal senken, sondern konditional formulieren, zum Beispiel so: „… ein Viertel der Mitglieder des Bundestags oder zwei Drittel der Mitglieder der nicht in der Regierung vertretenen Parteien“.

41,5 Prozent - da werden selbst Konservative zu Punkrockern: Kanzlerin Merkel klatscht im Takt, Generalsekretär Gröhe gibt den Rock'n'Roller und Fraktionschef Kauder wandelt auf den Spuren von Campino.
41,5 Prozent - da werden selbst Konservative zu Punkrockern: Kanzlerin Merkel klatscht im Takt, Generalsekretär Gröhe gibt den Rock'n'Roller und Fraktionschef Kauder wandelt auf den Spuren von Campino.

Hatte das neue Wahlrecht entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis, oder wären FDP und AfD auch ohne Wahlrechtsreform knapp gescheitert?

Behnke: Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Was den sogenannten mechanistischen Effekt des Wahlsystems angeht, so ist nur das Zweitstimmenergebnis relevant, sowohl im alten als auch im neuen Wahlsystem. Die FDP und die AfD wären also auch nach dem alten System nicht im Bundestag vertreten gewesen. Komplizierter wird es, wenn man den psychologischen Effekt betrachtet. Nach der Reform gibt es keinen so großen Anreiz mehr für CDU-Anhänger, die FDP mit Leihstimmen zu unterstützen. Zumindest fällt die Möglichkeit weg, dass durch Stimmensplitting beide Parteien profitieren konnten. Bisher galt: Wenn die CDU Überhangmandate in einem Bundesland erhielt, können die CDU Anhänger ihre Zweitstimme problemlos der FDP geben. Da Überhangmandate jetzt ausgeglichen werden, gibt es diese Win-Win-Situationen nicht mehr. Es ist ein Nullsummenspiel geworden; was der eine gewinnt, verliert der andere. Insofern ist es für die FDP durch das neue Wahlgesetz vermutlich in der Tat schwieriger geworden. Aber die Änderung ist dennoch richtig, denn die Vorteile, die zuvor durch Überhangmandate und Stimmensplitting entstanden, waren nicht gerechtfertigt und ein Verstoß gegen das Gebot der Chancengleichheit.

Ist das neue Wahlrecht mehr als ein notdürftiges Provisorium, um der Forderung des BVerfG gerecht zu werden?

Behnke: Das neue Wahlsystem stellt eine Verbesserung dar. Das größte Problem des alten Wahlrechts – dass Überhangmandate Mehrheiten verändern könnten – ist beseitigt worden. Andererseits ist das neue Wahlsystem eine Art Blindgänger; also eine Bombe, die explodiert, sobald sie durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst wird. Sollte die CSU einmal sechs oder sieben Überhangmandate erhalten, dann bekommen wir mehr als 700 Mandate. Ein Überhangmandat der CSU müsste mit 15 bis 20 Ausgleichsmandaten kompensiert werden. Das ist natürlich absurd. Auch jetzt orientiert sich übrigens der Ausgleich schon an der CSU, obwohl sie gar keine Überhangmandate erhalten hat. Wegen des zweistufigen Verfahrens der Sitzvergabe, wonach auf der ersten Stufe die Sitze erst einmal auf die Bundesländer entsprechend ihrer Bevölkerungszahlen verteilt werden, ist die CSU nach der ersten Stufe die am stärksten überrepräsentierte Partei gewesen, ganz ohne Überhangmandate. 23 der 28 Ausgleichsmandate sind darauf zurückzuführen. Selbst bei dem scheinbar harmlosen Ausgang der aktuellen Wahl produziert das Wahlsystem also schon absurde Ergebnisse.

Wie beurteilen Sie die Chancen für eine erneute Wahlrechtsreform in der kommenden Legislaturperiode? Oder passiert das erst, wenn der Bundestag aus über 700 Abgeordneten besteht?

Behnke: Ja, das ist meine Befürchtung. Die Politik reagiert hier leider immer erst dann, wenn der Wagen, in diesem Fall das Wahlsystem, schon gegen die Wand gefahren ist.

Bedeuten 2,2% das endgültige Ende der Piratenpartei?

Behnke: Nicht unbedingt. Die Piraten besitzen weiterhin eine gewisse Kompetenz in bestimmten Fragen, bei der sie die anderen Parteien übertreffen. Aber sie konnten daraus bisher wenig machen. Die hohen Umfragewerte im letzten Jahr waren natürlich zum großen Teil nur Protestwähler, die sich jetzt eben woanders Luft machen. Aber es gibt ein originäres Wählerpotenzial der Piraten in Bezug auf ihre Themen. Ob sie das zu nutzen wissen, ist eine andere Frage.

Braucht Deutschland die FDP?

Behnke: Nein, wieso sollte das der Fall sein?

Braucht Deutschland eine liberale Partei?

Behnke: Deutschland braucht wie jeder aufgeklärte Rechtsstaat eine starke politische Philosophie des Liberalismus. Damit aber hatte die FDP spätestens seit Westerwelle nichts mehr zu tun. Westerwelle hat die Partei programmatisch wie personell entkernt. Es ist eben ein grundlegendes Missverständnis zu glauben, dass Liberalismus etwas mit Staatsfeindlichkeit zu tun hat. Dies ist die libertäre Richtung des Liberalismus, wie er in den USA von der Tea Party vertreten wird, oder eben in Deutschland von der FDP. Christian Lindner hat den Staat einmal als „teuren Schwächling“ bezeichnet, andere FDP-Spitzen Steuern als „Geschenke der Bürger an den Staat“. Philosophisch gesehen kann man wohl gar nicht schlimmer daneben liegen. Allerdings ist die FDP nicht nur daran gescheitert, dass sie zu schlecht in Philosophie war, auch wenn ich mir vielleicht wünschen würde, dass so etwas grundsätzlich möglich wäre.

Können die Grünen den Platz der FDP als Bürgerrechtspartei einnehmen?

Behnke: Die Grünen sind eine liberale Partei, was die gesellschaftspolitischen und Bürgerrechtsfragen angeht. Dieses Wählerpotenzial, das in den 70ern vielleicht FDP gewählt hätte, befindet sich schon längst bei den Grünen, teilweise vielleicht auch bei den Piraten, wenn dort natürlich auch nur in kleiner Zahl.

Die Grünen haben sich vor der Wahl mit „linken“ Forderungen nach Steuererhöhungen und mehr Umverteilung positioniert. Jetzt streiten sie über einen Schwenk zur Mitte. Wo sehen Sie mittelfristig das größere Wählerpotential?

Behnke: Die Grünen hatten zu hohe Erwartungen. Das führt aber nun dazu, dass sie das Ergebnis überdramatisieren. 8,4% sind ja eigentlich gar kein so schlechtes Ergebnis, nur im Vergleich zu den überhöhten Erwartungen fällt es mager aus. Aber der starke Persönlichkeitsfaktor zu Gunsten von Merkel hat allen Parteien zugesetzt. Sicherlich ist einiges im Wahlkampf von SPD und Grünen schief gelaufen und es wäre für beide Parteien mehr drin gewesen. Aber nur weil sie mit dem „linken“ Programm nun nicht so gut abgeschnitten haben, heißt dies noch keineswegs, dass sie mit einem eher wirtschaftsfreundlichen Programm im Sinne der baden-württembergischen Realos besser abgeschnitten hätten. Das Grundproblem der Grünen besteht derzeit darin, dass ihre Kompetenz zu Umweltfragen sich nicht mehr so auszahlt, vor allem nicht seit Atomausstieg und Energiewende. Wenn sich im Ziel auf einmal alle einig sind, ist es eben sehr schwierig, sich von den anderen dadurch abzusetzen, dass man die von allen geteilten Ziele besser umsetzen könnte.

Auf diese FDP kann Deutschland gut verzichten - meint Joachim Behnke.
Auf diese FDP kann Deutschland gut verzichten - meint Joachim Behnke.

Liegt es tatsächlich an Merkels CDU, dass ihre letzten beiden Koalitionspartner bei der darauffolgenden Wahl schwere Verluste erlitten haben?


Behnke: Also an der CDU liegt dies ganz bestimmt nicht, denn diese ist ja unter Merkel eher ebenfalls untergegangen, in programmatischer Hinsicht. Die starken Persönlichkeitswerte von Merkel in der Wahrnehmung der Wähler überschatten derzeit alle programmatischen Unterschiede und machen es dementsprechend schwer, sich inhaltlich zu profilieren. Merkel hat der CDU nicht zu einem stabilen Sockel von 40% verholfen, auf den sie bei den nächsten Wahlen wieder zählen könnte. Die Wähler sind immer noch genauso volatil und wechselfreudig wie bei den letzten Wahlen. Merkel bewirkt nicht, dass die gefühlte Loyalität der Bürger zur CDU wieder zugenommen hat. Ganz im Gegenteil hat sich die Bewertung der CDU von der Merkels eher gelöst. Insofern kann es gut sein, dass Merkel für die Nach-Merkel-CDU sogar ein noch größeres Problem sein wird als für die SPD und die Grünen.


Droht der SPD und den Grünen bei einer schwarz-roten bzw. schwarz-grünen Koalition dasselbe Schicksal?


Behnke: Nicht unbedingt; das hängt davon ab, wie schlau sich die Parteien verhalten. Sie dürfen auf keinen Fall mehr die Rollenaufteilung zulassen, dass sie für die Verkündigung der unangenehmen Wahrheiten alleine zuständig sind. Vielmehr sollten sie in einer Koalition mit der CDU versuchen, dort die Politik in ihrem Sinne durchzusetzen, die auch bei der Bevölkerung Zuspruch findet oder bei entsprechender Aufklärung Zuspruch finden kann. Es wäre daher unklug, sich bei den Koalitionsverhandlungen auf die Steuerproblematik zu fokussieren. Vielmehr sollten sie, wer auch immer von ihnen es machen wird, darauf drängen, dass Mindestlohn, Bürgerversicherung und andere positiv besetzte Maßnahmen durchgesetzt werden und dann dafür sorgen, dass dies auch ihnen zugerechnet wird. Dann können sie durchaus als Gewinner aus einer Koalition mit Merkel und der CDU gehen, vor allem in Hinsicht darauf, dass Merkel ja vermutlich nicht mehr die Kandidatin der CDU bei der nächsten Wahl sein wird.


Wagen Sie eine Prognose für den Ausgang der Koalitionsverhandlungen?


Behnke: Nein, da ist derzeit alles offen.



Titelfoto: eigener YouTube-Screenshot

Text: eigener Screenshot | merkelraute.tumblr.com | Liberale (CC BY-NC-ND 2.0)

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Zeit, um zu entscheiden

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