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Mitglieder in der Projektgruppe zum Thema "Systemtheoretische Untersuchung der Emotionen als Mobilisationsfaktors in der modernen Protestbewegung am Beispiel der Ereignisse im Sommer 2013 im Gezi-Park, Istanbul" waren:
| Aras Direkoglu
| Deniz Bayraktaroglu
| Dorothea Lindner
| Maximilian Intraud
| Kübra Karatas
Was mit einem Protest zum Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul begann, wurde schnell ein Protest zum Erhalt und Verwirklichung von Menschen- und Bürgerrechten. Was vereint Millionen von Menschen unterschiedlichster Hintergründe und Gruppen, die sich ansonsten bis auf das Messer bekämpfen? „Als das Überthema Revolution im Raum stand, war für uns klar, dass wir den Gezi-Park untersuchen wollten. Wir fanden es extrem spannend, wie eine so heterogene Masse von Menschen ohne klar erkennbare Koordination, Organisation oder Führung ihre Ziele verfolgt “, erinnert sich Aras Direkoglu, der zusammen mit seinen Kommilitonen Deniz Bayraktaroglu, Dorothea Lindner, Maximilian Intraud und Kübra Karatas ein Jahr lang die Taksim-Bewegung untersucht hat. „Als treibende und einende Kraft vermuteten wir die Emotionen der Protestierenden, die in der bisherigen Forschung eher vernachlässigt oder eine triviale Rolle zugeschrieben wurde“, erklärt Aras. Die Forschergruppe nahm zudem an, dass Emotion nicht nur ein wichtiger Faktor für die Entstehung des Protests war, sondern auch für dessen Aufrechterhaltung. Um den Wandel der Emotionen im Verlauf des Protests qualitativ mit Interviews untersuchen zu können, zog die Gruppe das theoretische Modell der „Ladder of Emotions“, der Leiter der Emotionen hinzu.
Die Sprossen der Leiter gleichen Eskalationsstufen, auf denen die Protestbewegung auf- oder absteigt, beziehungsweise eskaliert oder deeskaliert. Folgt man der Argumentation der Autoren des Modells, ist die Transformierbarkeit von Emotionen zu politischen Handlungen eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung einer Protestbewegung. Eine Transformation von Emotionen findet dann statt, wenn der Protest von einer Stufe auf die nächste übergeht. Ein Aufstieg auf der Emotionsleiter bedeutet aber gleichzeitig Instabilität und der Protest läuft auch Gefahr eine Stufe zurückzufallen beziehungsweise die Leiter zusammenzubrechen.
In einem ersten Schritt ordnete die Gruppe die Ereignisse im Verlauf des Protests auf dem Gezi-Park chronologisch und stellten fest, dass eine klare Eskalation erkennbar war. Um in einem zweiten Schritt nachzuweisen, dass die einzelnen Stufen der „Ladder of Emotions“ in der Entwicklung des Protests zu beobachten waren, reiste die Gruppe nach Istanbul und interviewte dort 19 Protestteilnehmer anhand leitfadengestützter Interviews.
1. Die erste Stufe der Leiter stellt die Grundemotion auf dem Weg zu einem Protest dar. Sie sind Emotionen der persönlichen Zuneigung, wie zum Beispiel Liebe, Sicherheit oder Stolz. Im Protest beziehen sich diese Emotionen auf ein Identifikationsmerkmal einer Gruppe, was sowohl ein Ort, Gegenstand oder eine Person sein kann. Für die Protestbewegung in Istanbul war dieses Merkmal der Gezi-Park. In den Interviews wurde eine starke Verbundenheit und sogar Liebe der Protestierenden zum Park deutlich.
2. Die zweite Stufe der „Leiter der Emotionen“ ist erreicht, wenn das Identifikationsmerkmal einer Bedrohung ausgesetzt wird. Dabei entstehen Gefühle wie Angst, Sorge und Wut. Als der Bau eines Einkaufszentrums und die Zerstörung des Parks bekannt wurden, transformierten sich die Emotionen und es entstanden erste Organisationen, die sich unter anderem mit Unterschriftenaktionen für den Erhalt des Parks einsetzten.
3. Die Emotionen der dritten Stufe der Leiter sind Voraussetzung dafür, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung oder einzelner Gruppen in den eigentlichen Protest umschlägt. Die junge Forschergruppe sah den Auslöser für die Emotionen der dritten Stufe im Fehlverhalten türkischer Politiker. Angst, Sorge und Wut wandelte sich in Frustration, Entfremdung und Enttäuschung.
4. Nach der Frustration schlagen die Emotionen auf der vierten Stufe der Leiter um auf ein Gefühl der Solidarität mit allen am Protest beteiligten Gruppen. Die Stimmung im Gezi-Park gleicht fast einer Volksfeststimmung, in der sich feindlich gegenüberstehende Gruppen gegenseitig mit Sprechgesängen unterstützen und gemeinsam über die politischen Führer Witze reißen.
5. Auf der fünften Ebene, dem Höhepunkt des Protestes, entwickelt sich bei den Protestierenden durch die andauernde Involvierung in den Protest und die zunehmende Bereitschaft zur Aufopferung eine Radikalisierung des Protestes. Trotz dem massiven Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden harrten diese weiter im Park aus und errichteten Barrikaden gegen Einsatzkräfte der Polizei.
Am Ende wurde der Park am 15. Juni 2013 von Polizeikräften geräumt und die Protestbewegung, dem gemeinsamen Identifikationsmerkmal beraubt, stark geschwächt. Die Studierenden der Forschungsgruppe sehen den Protest jedoch damit nicht als gescheitert an, denn immerhin sei der Umbau des Parks bis heute verhindert worden. Außerdem schließt das Erreichen der letzten Stufe einen erneuten Protest nicht aus.
Mitte Juli müssen die Forschungsberichte aus dem Zeppelinjahr abgegeben werden. Doch die nächsten Zeppelinprojekte stehen schon in den Startlöchern und bereiten ihre Themen vor. Im kommenden Semester werden die Bachelorstudierenden ihre Forschungsprojekte unter dem Leitthema „Städte“ vorstellen. „Mit der Forschungsreise nach Istanbul war unser Zeppelinprojekt zwar sehr aufwendig, aber gleichzeitig hat es uns unglaublich Spaß gemacht, den Protest besser verstehen zu können. Nach der Abgabe werden wir auf jeden Fall nochmal gemeinsam feiern“, schließt Aras ab.
Titelbild: Maximilian Klein | ZU
Bilder im Text: Maximilian Klein | ZU
Projektgruppe | Privat