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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen.
Den Fragen, denen ich mich in meinem Aufsatz widme, stammen von Dichtern aus der Romantik – der Zeit also, in der die Heimat gewissermaßen entdeckt wurde. Die erste lautet: „Wo gehen wir denn hin?“ Das ist in Novalis’ Roman „Heinrich von Ofterdingen“ die Frage eines Wanderers, der sich in der Fremde befindet. Die Antwort scheint so einfach, dass sie extrem kompliziert ist. Sie lautet: „Immer nach Hause.“ Das sagt in diesem Roman ausgerechnet ein Pilger, ein Wanderer also, der zugleich physisch auf der Erde und seelisch zu Gott unterwegs ist. Ein Wanderer, der vor allem eine geistige Heimat sucht und zwar paradoxer Weise in einer Richtung des Wanderns durch die physische Welt. Ein Wanderer, der zu allem Überfluss und dieser Heimatdopplung entsprechend mehrere Väter (den leiblichen, den Landesvater und wohl auch Gott) und auch mehrere Mütter (mindestens die leibliche und die Jungfrau Maria) hat, sodass man auch im Hinblick auf seinen Sozialverband nicht weiß, wo sein Zuhause denn eigentlich sein soll.
Sagt ein solcher Wanderer, dass er immer nach Hause geht, dann ist auch ein Zuhause gemeint, das man weder erreichen noch verlassen kann – egal wohin man unterwegs ist. Man hat diese Heimat nicht mehr als selbstverständlichen, unhinterfragten stabilen Boden unter den Füßen; verlässt sie aber auch nicht, weil die Vorsehung diese Füße leitet. Damit aber ist die Heimat nicht mehr ein Land, sondern eine Richtung. In seinem „Allgemeinen Brouillon“ schreibt Novalis sogar dem Denken eine solche Richtung zu und behauptet, dass die Philosophie selbst „eigentlich Heimweh“ sei, nämlich „Trieb, überall zu Hause zu sein“, was zugleich aber auch eine Ausgangsposition nahelegt, in der man überall fremd ist. Gegen diese Fremdheit soll die Philosophie anarbeiten.
Nichts scheint der heute vorherrschenden analytischen Philosophie ferner zu liegen als ein solcher Trieb – aber die Metapher zeugt davon, wie sehr ein Romantiker gar nicht anders konnte, als selbst den Wissensdurst noch als Sehnsucht nach einer Heimat zu fassen. „Immer nach Hause“ ist also die Antwort eines Menschen, der seine Sehnsucht nicht mehr verorten kann – eines Odysseus, dessen Ithaka nicht mehr von dieser Welt ist. Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács (damals schrieb er sich noch mit adeligem „von“) hat an genau Novalis’ „Immer nach Hause“ den Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ festgemacht – als könnte man ein Obdach in den Ideen finden, gegen Wind und Wetter, gegen Krieg und Krankheit sich in den Bedeutungen einer, wie er glaubt, in sich als Totalität geschlossenen Kultur entwickeln/einwickeln.
Doch Lukács trifft hier einen Punkt: Wenn Novalis die Philosophie als Heimweh bezeichnet, dann scheint es auch ihm um den Versuch zu gehen, im Abstrakten eine Heimat zu finden, die es im Konkreten nicht mehr gibt. Wer unterwegs ist und dabei immer nach Hause geht, ist ein Nomade, für den nur der Sternenhimmel gleichbleibt, der sich nur an einem Ort orientieren kann, den er als Körper nicht erreichen kann. Und vielleicht ist die älteste Form der Philosophie, die Astrologie nämlich, die älteste Form der Schaffung einer Heimat. Bevor Menschen auf die Idee kamen, sesshaft zu werden, war der überall gleiche Mond ihr einziger Halt und ihre einzige Heimat. Bei Novalis ist Heimat damit immer eine verlorene Heimat – sonst würde man sich nicht nach ihr sehnen –, und die Allgegenwart und Geistigkeit dieser Sehnsucht macht die Heimat überhaupt erst zur Heimat.
Die Frage des zweiten Romantikers hat weniger mit Sehnsucht zu tun und vielmehr mit Angst. Diese Frage entnehme ich dem amerikanischen Lyriker und Philosophen Ralph Waldo Emerson. Sie lautet: „Where do we find ourselves?“ („Wo befinden wir uns“ oder: „Wo finden wir uns wieder?“). Diese Frage ist radikaler, da sie von Vornherein auch die Richtung negiert – und man versteht daran auch gleich, was den Unterschied zur ersten Frage ausmacht: Sehnsucht hat Richtung; Angst nicht. Emersons Antwort ist schon an der Oberfläche kryptisch. Sie lautet: „Inmitten einer Reihe, deren Grenzen wir nicht kennen, und von der wir glauben, dass sie keine Grenzen hat.“ Zur Erklärung bietet Emerson das Bild einer Treppe ohne Ende, auf der „wir“ erwachen. „Wir können uns nicht erinnern, wie wir dorthin gekommen sind, denn wir haben zu viel von einem Vergessenstrunk getrunken, sind schläfrig und niemals ganz wach. Alles schwimmt und gleißt. Selbst unser Leben ist nicht so sehr in Gefahr wie unsere Wahrnehmung. Wie Geister gleiten wir durch die Natur und finden unseren Ort nicht wieder.“
Diese Frage und diese Antwort hat vielleicht mehr mit unserer Gegenwart zu tun als die Sehnsuchtsfrage von Novalis. Frage ich mich „Where do I find myself?“, dann stelle ich diese Frage an mein Smartphone – genauer: an Google Maps. Google Maps ist eine geistige Heimat, Technisierung einer Philosophie, die überall Zuhause sein will. Die Technik erfüllt diese Funktion aber auf eine Art, die nicht mehr darauf hinausläuft, die Welt zu bewohnen. Man bewohnt stattdessen das Wissen über diese Welt. Man hat, will man Lukács gegen sich selbst wenden, damit die transzendentale Obdachlosigkeit überwunden – man hat ein transzendentales, ein abstraktes, ein im Wissen verankertes Obdach realisiert; aber darüber die physische Verankerung verloren.
Google Maps setzt sich an die Stelle zum Kontakt mit anderen physisch präsenten Menschen (die ich nicht mehr fragen muss); an die Stelle des verortenden Orientierungssinns (der mich als Körper in der Welt verorten würde, was eine Karte nur auf geistige Weise kann). Ja, die Karte wird zu ihrer eigenen Welt, legt sich über sie, ersetzt sie. Ich wohne im Wissen, das heißt auf halber Treppe dorthin, denn dieses Wissen ist völlig unbewohnbar. Ich bin ja kein Engel, sondern habe einen Körper. Und dieser Körper braucht Gespür, nicht Information, um irgendwo hinzugehören. Er braucht Orientierungssinn, braucht Mitmenschen, die man nach dem Weg fragt, braucht einen Ort, der nicht ganz so transzendental wäre. Die Wahrnehmung ist unsicher, ich habe vergessen, wie ich mich in der sinnlichen Welt zurechtfinde.
Sowohl Novalis als auch Emerson schrieben in einer Zeit, in der sich eine Entwicklung anbahnte, die sich seither nur beschleunigt hat – und die einer zuvor mehr als 10.000 Jahre dominanten Entwicklung ein Ende setzte. Gegen Ende der vergangenen Eiszeit begannen Menschen überall auf der Erde sesshaft zu werden und Landwirtschaft zu betreiben. Die ältesten Mythen zeugen noch von dieser Entwicklung – erzählen doch etwa der Auszug aus Ägypten und die Aeneis das Besiedeln eines Landes und die Findung einer Heimat, oder erzählt die Odyssee die Sehnsucht nach ihr. Die Bindung der Sozialverbünde an Orte führte zu den ersten Genoziden, zu Völkerwanderungen und Vertreibungen – und sie ist niemals zum Abschluss gekommen: Bis auf den heutigen Tag gibt es Nomaden.
Seit der Romantik kommt aber mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der daraus resultierenden Landflucht eine weitere Bewegung ins Spiel, die die Menschen zunächst in die Städte trieb, zu Arbeitsmigranten und schließlich in Pendler verwandelte; zugleich setzte eine Medienrevolution ein, die die Existenz immer ortsunabhängiger machte, bis sich der menschliche Körper in eine Schnittstelle mit der Virtualität und der Allgegenwart der Netzwerke verwandelt hat. Die Befremdlichkeit, die die Heimat in weite Ferne rückt, ist also keine bloße Laune. Sie ist emotiver Ausdruck einer neolithischen Konterrevolution (und das heißt moderner Subjektivität).
Damit zu einer dritten Frage eines heutigen Romantikers. Meister der Befremdlichkeit ist David Lynch. In seiner bahnbrechenden Serie „Twin Peaks“ lässt er die beiden zitierten Fragen zusammenlaufen. Twin Peaks selbst ist eine Stadt, die überall im Norden der USA liegen könnte, die keine besonderen Charakteristika hat. Eine beliebige, komplett austauschbare Kleinstadt, an der sich auf diese Weise zeigt, wie absurd die Rede von einer konkreten Heimat ist, wenn alles sowieso überall gleich aussieht und überall die gleichen, typenhaften Menschen leben. Es ist ein Ort des zufällig zum „Home“ gewordenen, nirgends wirklich verorteten Irgendwo.
Einer der markantesten Sprüche der neuen Staffel ist der fast wörtlich von Novalis übersetzte Wortwechsel: „Where are we going? – We’re going home.“ Die bei Novalis noch unfehlbare Richtung ist nun genauso unsicher geworden wie Emersons bedrohte Wahrnehmung. Das vermeintlich Anheimelnde blickt fremd und doch vertraut zurück (was nicht nur für Sigmund Freud eine Signatur des Un-Heimlichen ist). Und so lässt Lynch seinen einst als fast allwissend gezeichneten Agenten Dale Cooper als plötzlich vollkommen orientierungslos und von allem und jedem befremdet dastehen, wodurch die schon immer unheimliche Kombination von Heimat und Befremdlichkeit in einer amerikanischen Kleinstadt noch unheimlicher wird.
Sehnsucht, das alte Heimatgefühl der Romantiker, wird auf diese Weise selbst bedrohlich: Wer unter den heutigen Bedingungen „immer nach Hause“ geht, wird zum Wiedergänger. Besser man verstünde es, Emersons halbe Treppe etwas wohnlicher zu gestalten.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm