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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Es ist recht klar, dass Alan Turing und Martin Heidegger – hätten sie sich je getroffen – sich nichts zu sagen gehabt hätten. Aber kaum ein anderes Nichtgespräch vermöchte besser zu bestimmen, in welcher Lage sich das Denken heute befindet: fast siebzig Jahre nachdem sie es beide zu definieren versucht haben.
Turing beantwortete die Frage nach dem Denken 1950 in seinem berühmten Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“ mit dem nach ihm benannten Test. Denken war für ihn eine Aktivität der Symbolmanipulation, die keine Relation zur Außenwelt hatte, außer einem klar definierbaren Input und Output. Und wenn eine Maschine, die denselben Input bekommt wie ein Mensch, auch denselben Output erzielen könnte, so dass selbst Menschen der Unterschied nicht auffiele, dann gäbe es auch keinen Grund zu sagen, dass die Maschine nicht denke.
Seither treiben die Computer die Menschen auf der Suche nach letzten Bastionen des rein menschlichen Intellekts vor sich her, während sie in jeder einmal erworbenen Fähigkeit die Menschen sofort uneinholbar zurücklassen. Immer schwerer fällt es zu bestimmen, worin der Unterschied zwischen menschlichem und maschinellem Denken besteht. Nach dem Rechnen und dem Schachspiel, nach Jeopardy und der Kommunikation durch Bots, nach dem Autofahren und dem Bombardieren haben Computer sogar etwas Analoges zur Intuition erreicht: Googles Alpha Go und Alpha Zero sind in der Lage, bei Brettspielen Züge zu finden, die sie nicht errechnet, sondern nur «intuiert» haben können.
Schon Turing selbst war interdisziplinär und gründlich alle zu seiner Zeit verfügbaren Theorien des Denkens durchgegangen und hatte keine gefunden, die sich mit seinem Test nicht messen ließ. Wenn es aber eine Philosophie des Denkens gibt, die bis heute mit dem Turing-Test unvereinbar ist – dann ist es jene, die Martin Heidegger 1951/52 unter dem Titel „Was heißt denken?“ seinen Freiburger Studenten unterbreitete.
Während für Turing die Reduktion der Welt auf klare und distinkte Symbole und die Trennung von der Welt (das Nachdenken über sie) Voraussetzung des Denkens war, sah Heidegger in genau dieser Trennung den Grund für das „Bedenklichste“: In der sich immer mehr technisierenden Nachkriegszeit beobachtete er, „dass wir noch nicht denken“.
Das ist nun eine überzogen wirkende Behauptung. Aber gerade die Frage, ob Computer denken können, gibt ihr ungeahntes Gewicht. Die Logik dieser Maschinen nennt Heidegger „Logistik“, sie ist ein Bereitstellen von Daten und Fakten nach fixen Prinzipien. Er kritisiert diese Form der Wissenserstellung, indem er die noch merkwürdigere – oder eben bedenklichere – Folgebehauptung aufstellt, dass auch die Wissenschaft nicht denke. Warum nicht? Weil sie methodisch sauber arbeitet – weil sie einen „festgelegten Gang“ hat. Ihr gelingt es damit nicht, die Welt, in der die Menschen wohnen, zur Erscheinung zu bringen; sie kann sie nur objektivieren und bestenfalls beschreiben, kann nur über sie nachdenken, nicht in ihr. In genau diesem „über“ statt „in“ liegt die Crux: Denn dies ist auch die Voraussetzung, die der Turing-Test macht. Die Trennung von Denkendem und Weltlichem erlaubt es überhaupt erst, Denken über Input und Output zu definieren.
Heideggers Vermutung, dass diese Trennung Denken eher verhindert als definiert, bestätigt sich heute, wenn man betrachtet, was Computer nicht oder schlecht können – denn fast immer geht es dabei um die Teilhabe an der Welt. Es geht um alle denkbaren Formen der Befangenheit – von Stimmungen und Launen über eigenes Interesse (also „Dazwischensein“) bis zum Erleben. All dies erfordert Partizipation.
Nimmt ein Mensch etwa einen Rhythmus wahr, dann geht dieser Rhythmus in seinen Körper über, er lässt ihn unterschwellig tanzen (und sei es nur mit der Stimme) und verändert so auch den Lauf der Gedanken. Die Sinnlichkeit denkt sozusagen mit. Eine heutige Software indes kann den Rhythmus nur qua Sensor eingespeist bekommen und ihn analysieren, doch der Rhythmus wird die Funktion ihrer Programme nicht verändern. Das mag ein Vorteil sein, wenn es darum geht, dass ein selbstfahrendes Auto nicht auf einmal risikoreicher und schneller fährt, wenn es Heavy Metal hört – aber es verhindert auch das, was Heidegger Denken nennt: ein Sich-Einlassen auf das (Er-)Scheinen der Welt.
Ein Beispiel dafür ist die Sprache. Eigentlich sollten symbolverarbeitende Maschinen leicht mit ihr klarkommen. Computer sind mit Semantik und Syntax – also mit Bedeutungen und deren Gewinnung aus der regelhaften Kombination von Zeichen – bestens vertraut; programmiert sind sie selbst in sogenannten Sprachen. Und tatsächlich genügen ein paar Sekunden, höchstens Minuten, um das gesamte Lexikon auch einer menschlichen Sprache auf einen gewöhnlichen Computer zu laden, während Menschen für eine einzige Sprache ihre gesamte Kindheit verschwenden. Dennoch haben selbst die avanciertesten Sprachprogramme Mühe, nichtschematische Sätze sinngemäß zu übersetzen oder zu verarbeiten. Was fehlt also? Nun, alles fehlt – alles jedenfalls, was der Sprache und ihren Bedeutungen Sinn, und das heißt eben auch Sinnlichkeit, Fühlbarkeit und damit Weltlichkeit, gibt.
Computer haben keine sinnvolle Welt – so viele Bedeutungen sie auch prozessieren können. Alpha Zero wird niemals sagen, dass es keine Gegner mehr finde und Brettspiele ihm langweilig geworden seien – dabei wäre das die natürlichste Reaktion eines wirklich denkenden, Sinn suchenden und verstehenden Wesens.
Könnten Computer vielleicht ihre durch Symbolmanipulation gewonnenen Bedeutungen und Aussagen sinnvoll machen? Auch das scheint nicht recht möglich zu sein, denn Menschen gehen umgekehrt vor – sie finden den Sinn schon vor und machen ihn bedeutungsvoll. Die erste Begegnung eines Kleinkinds mit der Sprache ist die Begegnung mit jeder Menge fühlendem und ausagiertem Sinn: mit Begierden und Enttäuschungen, mit emotionalem Timbre, mit der Sinnlichkeit, Laute und Wörter zu formen, mit emotional und durch körperliche Bewegungen aufgeladenem Rhythmus und Melodie der Sprache – erst später erkennen Kinder, dass sie auch etwas über die Welt sagen können.
Computer dagegen müssen alleine mit ihrem Wissen über die Welt auskommen – ohne Sinn. Wie unmenschlich das ist, lässt sich an den vielen Beispielen intellektueller Melancholie ersehen. Zu fast allen Zeiten gab es Denker, die zuweilen derart in Konzepten und Bedeutungen lebten, dass sie den erlebten Sinn nicht mehr wahrnehmen konnten; dass sie also meinten, den Sinn ihres Lebens als Zweck greifbar machen zu müssen – und dann feststellten, dass sie dazu nicht in der Lage waren. Computer freilich erreichen bis jetzt nicht einmal den Zustand, in dem sie ihre Sinnlosigkeit als Krise erleben könnten – denn dieses Erleben der Sinnlosigkeit braucht ja selbst einen spürbaren Sinn.
Was heißt da also Denken, wenn es keinen Sinn hat? Diese Frage scheint noch immer eine Herausforderung für Turing-Maschinen darzustellen. Das gilt besonders in einer Zeit, da sie das wissenschaftliche Nichtdenken auf eine seinerzeit höchstens von Turing erahnte Weise befördert, gesteigert und schließlich in einen Status übergeführt haben, der es den Menschen erlaubt, sich recht gedankenlos auf ihre Apps und Statistiken, auf ihre computergestützten Szenarien und Steuerungen zu verlassen. Auch wenn abzuwarten bleibt, ob die nächste oder übernächste Generation von Software oder Hardware die Hürde zum Sinn noch nimmt, scheint Heidegger im imaginären Gespräch mit Turing über das Denken den entscheidenden Punkt zu treffen.
Das ist ein unangenehmes Ergebnis, denn hätte das Gespräch vor knapp siebzig Jahren tatsächlich stattgefunden, dann wäre das nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, den Turing durch seine Dechiffrierung des Enigma-Codes mitentschieden hatte, während sich Heidegger auf der anderen Seite schwer damit tat zu akzeptieren, nicht der erträumte «Führer des Führers» geworden zu sein. Und wenn das Gespräch im Heideggerschen Sinne ein Denken hätte ermöglichen sollen, welche Welt hätte es also zur Erscheinung gebracht?
Um dies zu verstehen, muss man auf den Ton achten, denn über ihn erkennt man am besten, auf welche Weise Gedanken an der Welt teilhaben. Im Ton aber schneidet Turing, der voller Leben, Rücksicht, Klarheit und Komik den Nerv seiner und auch noch unserer Zeit trifft, unendlich viel besser ab als Heidegger, der sich seinerseits notorisch im Ton vergreift. Wenn Letzterer ausgerechnet die Zeit nach dem Nationalsozialismus «bedenklich» nennt, dann liegt darin mehr persönliche Unaufrichtigkeit, als es inhaltliche Richtigkeit geben kann. Der Ton des Denkens vergibt keine Falschheit, und vielleicht ist das nicht nur ein Fazit für das imaginäre Gespräch vor siebzig Jahren, sondern auch eine Warnung für die heutige Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz.
Dieser Beitrag ist am 22. Januar unter dem Titel "Alan Turing und Martin Heidegger im imaginären Gespräch: Welche ihrer beiden Theorien des Denkens hat uns heute mehr zu sagen?" in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm