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Seit dem Herbstsemester 2012 ist Dr. Patrick Bernhagen Professor für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität. Bernhagen studierte Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Medienwissenschaft an der Phillips-Universität Marburg, dem Trinity College Dublin und der Duke University (USA). Er promovierte 2005 am Trinity College Dublin und wurde anschließend zunächst Lecturer und dann Senior Lecturer an der University of Aberdeen. Seine wichtigsten derzeitigen Arbeitsgebiete sind Fragen der politischen Beteiligung von Bürgern und Unternehmen an den politischen Prozessen verschiedener Staaten und internationaler Organisationen.
Berlin gleicht dieser Tage einem großen Marktplatz. Da wird PKW-Maut gegen Mindestlohn getauscht, um Mütterrente und Betreuungsgeld geschachert. Gerade staatlich festgesetzte Löhne sorgen für heiße Diskussionen. „Ein waghalsiges Experiment“, warnt ZU-Volkswirt Christian Bauer.
Anders als in vielen europäischen Ländern, gibt es in Deutschland noch keinen Gesetzlichen Mindestlohn. Denn das deutsche Grundgesetz garantiert in Art. 9 Abs. 3 die Tarifautonomie und bewilligt allen Beteiligten, ihre Löhne ohne staatliche Eingriffe auszuhandeln. Trotzdem können die Tarifparteien unter sich bestimmte Lohnuntergrenzen aushandeln. Diese gelten sogar für nicht tarifgebundene Arbeitgeber, wenn sie für allgemein verbindliche erklärt werden.
Diese sogenannten branchenspezifischen Mindestlöhne zahlen aktuell Arbeitgeber in 14 Branchen: Baugewerbe, Bergbau, Aus- und Weiterbildung, Dachdecker, Elektrohandwerk, Gebäudereinigung, Maler und Lackierer, Pflege, Sicherheitsdienstleistungen, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft, Steinmetze, Frisörhandwerk und Zeitarbeit. So erhalten fast 4 Millionen Beschäftigte einen tariflich gesicherten Lohn und verdienen damit mindesten 7,50 Euro pro Stunde.
Eine Vielzahl europäischer Länder verfügt bereits über Regelungen zum Mindestlohn. Es gibt also genügend volkswirtschaftliche Praxiserfahrung auf diesem Gebiet. Warum sollte ein Mindestlohn also ausgerechnet für Deutschland eine Gefahr für die Volkswirtschaft sein?
Professor Dr. Patrick Bernhagen: Es gibt eine Vielzahl von Studien zu den volkswirtschaftlichen Folgen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns – mit sehr widersprüchlichen Ergebnissen. Daran zeigt sich einerseits, wie schwierig es ist, auf der Basis statistischer Analysen und Simulationen Vorhersagen über zukünftige Wirkungen zu machen. Anderererseits wird hieran auch die ideologische Dimension der politikberatenden Forschung deutlich: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Ökonomen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts keine bis sogar positive Beschäftigungseffekte erwarten, während beispielsweise die Wissenschaftler des Ifo-Instituts vor Arbeitsplatzverlusten warnen.
Natürlich wären Lohnerhöhungen im Niedriglohnbereich nicht gänzlich ohne unerwünschte Folgen. Diese aber dürften vielfach auf die Verbraucher umgelegt werden. Um das vielbeschworene Friseurgewerbe zu bemühen: Wahrscheinlich wird der berühmte 10-Euro-Haarschnitt ein paar Euro teurer werden. Verglichen mit dem Missstand, dass es in Deutschland Menschen gibt, die trotz Vollzeitarbeit zu wenig zum Leben verdienen, scheint mir das ein sehr bescheidenes Opfer zu sein. Vor allem aber dürfte eine derartige Verteuerung die wenigsten Menschen davon abhalten, regelmäßig zum Friseur zu gehen – auch nicht die Geringstverdiener, deren Einkommen durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ja steigen würde.
Das Verhältnis von Produktion und Arbeitseinsatz beträgt gegenwärtig in der BRD gut 41 Euro im Durchschnitt aller, also auch der mittleren und kleinen, Betriebe. Widerspricht dies nicht der Argumentation, dass sich nur Großbetriebe einen Mindestlohn leisten können?
Bernhagen: Nicht zwingend, da man, um diese Aussage zu treffen, die zugrundeliegende Verteilung betrachten muss. Die ist alles andere als flach, wenn wir uns beispielsweise die 10-Euro-Haarschnitte im Niedriglohnsektor des Friseurgewerbes ansehen, so dass ein Mindestlohn in einigen Betrieben und Branchen anders zu Buche schlagen würde als in anderen.
Muss nicht gerade Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land Europas den Mut haben, in der Frage einer angemessenen Bezahlung als zentrale Bedeutung für die soziale Gerechtigkeit, ein Zeichen in Europa zu setzen?
Bernhagen: Das könnte es zumindest tun. Die Kosten einer derartigen Geste wären, wie oben erwähnt, wahrscheinlich äußerst gering. Möglicherweise könnten mit einer Anhebung im Niedriglohnbereich sogar die starke Exportabhängigkeit und das zunehmende wirtschaftliche Ungleichgewicht in der Eurozone etwas abgemildert werden.
Einen Eingriff in die Tarifautonomie kann es nur dort geben, wo es wirklich flächendeckende Tarife gibt. Lohnuntergrenzen in tariflosen Bereichen oder Zweigen, die keine bundeseinheitlich flächendeckenden Tarife haben, einzuführen, greift nicht in die Tarifautonomie ein.
Bernhagen: Ein Eingriff in die Tarifautonomie ist auch dann noch ein Eingriff, wenn die Autonomie in einigen Sektoren von den jeweiligen Akteuren nur unzulänglich ausgeübt wird. Verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einem gesetzlichen Mindestlohn auf Bundesebene scheinen jedoch kaum jemanden ernsthaft umzutreiben. In Branchen wie dem Gastgewerbe und anderen Dienstleistungen fällt es den Gewerkschaften offensichtlich sehr schwer, die dünne Tarifbindung der Löhne auszuweiten. Dafür gibt es eine Vielzahl struktureller Gründe, die alle in der Zukunft eher zu- als abnehmen dürften. Daher kann es durchaus Sinn machen, entsprechenden Missständen mit gesetzlichen Maßnahmen entgegen zu wirken.
Zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Mindestlöhnen gibt es viele konträre Studien. Ist es nicht sinnvoller, sich auf praktische Erfahrungen in anderen Staaten zu verlassen?
Bernhagen: Streng genommen rechtfertigt die Tatsache, dass gesetzliche Mindestlöhne anderswo keinen Schaden anrichten, nicht die Erwartung, dass sie das in Deutschland nicht doch täten. Noch weniger rechtfertigt sie allerdings die Erwartung, dass hier Schäden eintreten würden.
Titelbild: Dennis Skley (CC BY-ND 2.0)
Bilder im Text: Robert Agthe (CC BY 2.0) | Deutscher Gewerkschaftsbund