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Reinhard H. Schmidt, 1946 geboren, ist seit 1998 Professor für Internationales Bank und Finanzwesen an der Goethe Univeristät in Frankfurt am Main, wo er heute die House of Finance-Seniorprofessur innehat. Nach Promotion und Habilitation in Frankfurt zog es ihn zunächst nach Göttingen und Trier, aber auch beispielsweise an die Georgetown University, bevor er nach Frankfurt zurückkehrte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Institutionenökonomie, Finanzierungstheorie, Internationale Finanzregulierung und Finanzsysteme in Industrie- und Entwicklungsländern. In den letzten Jahren hat er insbesondere Arbeiten über den Vergleich der Finanzsysteme in Europa und zur Entwicklungsfinanzierung veröffentlicht. Seit April 2015 ist Schmidt Gastprofessor für International Banking.
Die Idee der Mikrofinanzierung ist so denkbar gut wie einfach. Finanzierungsinstitute stellen ärmeren Bevölkerungsgruppen und kleinen Betrieben kostengünstige Kredite zur Verfügung, um — wie bei einer Entwicklungshilfemaßnahme — das Wachstum in bestimmten Regionen anzukurbeln. Während das Konzept bereits mehrere Jahrzehnte existierte, löste erst die Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad Yunus im Jahr 2006 den großen Hype rund um das Thema Mikrofinanzierung aus. Yunus wurde vor knapp zehn Jahren mit der von ihm gegründeten Grameen-Bank zu gleichen Teilen mit dem Preis ausgezeichnet und als Begründer des Mikrofinanz-Gedankens geehrt. „Doch nach dem Hype kam die Desillusionierung", fasst Prof. Dr. Reinhard H. Schmidt zusammen, der damit nicht nur auf seine wissenschaftliche sondern auch auf seine praktische Expertise rund um das Thema Kleinst- und Entwicklungskredite zurückblickt.
Dabei, so betont Schmidt, sind solche Kredite nicht nur einfach umzusetzen, sondern auch noch von großer Bedeutung. „Mikrofinanzierung ist gerade deshalb so wichtig, weil sie wirtschaftliches Wachstum und damit gesellschaftliche Kohäsion fördert. Kredite dienen zur Geldbeschaffung — und das ist eben wichtig, weil es von den Kunden benötigt wird und damit wiederum auch für Finanzinstitute unerlässlich ist", erläutert Schmidt eingangs.
Doch so edel das Konzept anmutet, so schwer tat es sich in einer Entstehung, die Schmidt in vier Phasen und Ideale gliedert. „Relativ früh wurde der Versuch unternommen, den Marshall-Plan auf Entwicklungsländer zu übertragen und damit die richtigen Impulse zur Entwicklung zu setzen. Große Summen Realkapital wurden in Entwicklungsländer transferiert", erklärt er. „‘Das wird sich schon positiv auf die ganze Gesellschaft auswirken‘, vermutete man damals und wurde schnell bitter in seinen Erwartungen enttäuscht“. Lediglich Südkorea und Taiwan hätten die Gelder angemessen genutzt, fasst Schmidt zusammen. „Als Lehre aus dieser ersten Phase versuchte dann eine Politik der Deregulierung und Liberalisierung in den 1970er und 1980er Jahren das genaue Gegenteil. Fast zeitgleich entwickelte sich ein dritter Ansatz, der nicht mehr große Projekte finanzieren, sondern Geld direkt an bedürftige Zielgruppen weitergeben wollte", erläutert Schmidt. Genau in diesen Zeitraum fällt nun auch die Entstehung der ersten Mikrofinanzinstitute, die als Durchleitungsstellen für Kapital fungierten. „Die blühten damals auf, wie die Tulpen im April", attestiert Schmidt lachend. Und tatsächlich fällt auch die Gründung der weltbekannten Grameen-Bank von Yunus in diesen Zeitraum.
Am 02. Oktober 1983 gründet der aus Bangladesch stammende Wirtschaftswissenschaftler sein Mikrofinanzinstitut und zog damit die Lehren aus der großen Hungersnot von 1976. Seine Beobachtungen zeigten, dass die armen Menschen für ihren wirtschaftlichen Erfolg nur kleines Kapital brauchen, um Materialen oder Rohstoffe zu erwerben. Horrende Zinsen auf die Kredite der lokalen Geldverleiher und die starken Abhängigkeiten von Rohstofflieferanten aber machten jegliche Gewinnbemühung zunichte.
Auch große Banken weigerten sich, dieser Bevölkerungsgruppe Kredite zu gewähren — zu groß war der Arbeitsaufwand bei der geringen Höhe solcher Mikrokredite bei ganz normalen Zinsen. Yunus selbst beschrieb damals die Situation folgendermaßen: „Ich sah, dass die Leute hart arbeiteten, aber trotzdem blieben sie arm. Warum? Sie sagten mir, es läge daran, dass sie kein Kapital hätten. Um also Materialien zur Herstellung einfacher Möbel zu erstehen oder Zutaten für das Essen, das sie an der Straße kochten und verkauften, mussten sie sich Geld leihen: Entweder bei jenen Menschen, die ihnen die Rohstoffe zur Verfügung stellten und sie dann gleich auch für die fertigen Produkte bezahlten, oder beim Geldverleiher, der horrende Zinsen verlangte. So oder so – ihnen selber blieb am Ende eines langen Arbeitstages kaum etwas übrig."
Bereits 1976 verleiht Yunus eigenes Geld an Kreditnehmer, die sich aufgrund persönlicher Bindung zur Rückzahlung verpflichtet fühlten. Nach einigen Jahren entstand daraus eben jene Bank, die 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Denn mit großen Erfolg und Rückzahlungsquoten von 98% vergab die Grameen-Bank nun Mikrokredite an ganze Dörfer.
Doch mit dem Wachstum der Vorreiter-Bank wurden auch neue Akteure auf den Plan gerufen und immer mehr Mikrofinanzinstitute entdeckten Kleinstkredite als relevanten Geschäftsbereich. „Langsam entstand eine neuere, vierte Haltung mit dem Ziel, solide Institutionen aufzubauen, kommerziell zu operieren und unabhängig von der Bereitstellung von Subventionen zu werden", beschreibt Schmidt diesen Aufwind in seiner Antrittsvorlesung. Anfang der 1990er Jahre führte er dazu selbst eine Studie in Lateinamerika durch, die dieses Streben nach Kommerzialisierung verdeutlichte. „Zu diesem Zeitpunkt fand man heraus, dass immense Kosten mit Mikrofinanzierung verbunden waren und der soziale Impact so nicht erfüllt werden konnte", beschreibt er die Ergebnisse. „Diese Erkenntnis löste immense Diskussionen aus und verband schließlich zwei neue Ansätze miteinander: den kommerziellen Ansatz und den Ansatz zum Aufbau solider Finanzinstitute." Einerseits setzte man sich zum Ziel, die Mikrofinanzinstitute so zu führen, dass die entstehenden Kosten voll und selbstständig gedeckt werden konnten, anderseits sollten möglichst stabile Institutionen entstehen, die allen Anspruchsgruppen die passenden Anreize setzen konnten. Doch genau diese Institutionalisierung wurde schnell zum Problem, weiß Schmidt: „Eine zentrale Gefahr der Mikrofinanzierung war es, dass die Institutionen meistens aus Industrieländern aufbaut und von lokalen Kräften geführt wurden. Corporate Governance, also die Grundsätze der Unternehmensführung, wurden zum Problem. Die Anforderungen an ein Mikrofinanzinstitut sind also entsprechend hoch: Wir brauchen geduldige Inhaber, welche die Verantwortung für Überleben, Wachstum und eine dauerhafte soziale und entwicklungspolitische Ausrichtung tragen", fasst Schmidt das schwierige Anforderungsprofil zusammen.
Nach langer Debatte vor der Jahrtausendwende war dieser kombinierte Ansatz im Jahr 2000 trotz moralischer Kritik doch überwiegend akzeptiert. Auch Geldgeber begannen zu erwarten, dass Mikrofinanzinstitute ihre Kosten voll decken und sogar so viel Gewinn erwirtschaften könnten, dass sie auch rein finanziell interessierte Investoren anlocken könnten. Doch genau in dieser Annahme lag die nächste Gefahr für das Gesamtkonzept. „Zu diesem Zeitpunkt war die Anzahl an Mikrofinanzinstituten bereits enorm gestiegen", rechnet Schmidt vor. „Die Zahlen sind zwar vage, aber auch noch heute gibt es weltweit mehr als 10.000 Mikrofinanzinstitute, von denen aber nur 1.500 große und gut geführte Unternehmen bestehen und sogar nur 200 Kosten von unter zwanzig Prozent haben oder sogar Gewinn abwerfen." Und ganz im Gegensatz zu ursprünglichen Arbeit direkt am Geschehen, seien die meisten dieser Institute heute keine nichtstaatlichen Organisationen mehr, sondern große Aktiengesellschaften nach den Regeln der betroffenen Länder. „Sehr viele Institute von heute sind ganz normal lizensierte Banken, die ihre Geschäftspolitik darauf ausgerichtet haben, schwächeren Bevölkerungsschichten ihre Dienste anzubieten. In den letzten zehn Jahren ist Mikrofinanzierung erwachsen geworden", schlussfolgert Schmidt.
Doch der Lack ist ab. Das bekommt auch Yunus zu spüren, der nur fünf Jahre nach Erhalt des Friedensnobelpreises aus seiner eigenen Bank entlassen wird. Aus Altersgründen wirft die Grameen-Bank Yunus als Geschäftsführer im März 2011 raus. Erfolglos klagt er gegen seine Entlassung und wirft der Regierung von Bangladesch vor, die Bank unter ihre eigene Kontrolle bringen zu wollen. Die Bank würde zu einer Organisation der Regierung werden und sein Lebenswerk würde durch Misswirtschaft, Ineffizienz und Profitstreben gefährdet, erklärt Yunus 2011 im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Doch nicht nur Yunus beginnt an der möglichen Neuausrichtung zu monieren, auch Schmidt erklärt: „Kritik kam von allen möglichen Seiten. Die frühere Fokussierung ist von Kleinstfinanzierung auf Konsumfinanzierung gewechselt. Man warb in Entwicklungsländern damals wirklich mit dem Slogan ‚Kauf' Dir Deinen Porsche'. Gleichzeitig wurde kritisiert, dass an einem zu liberalen Modell festgehalten wird, dass Mikrofinanzierung kommerziell zu attraktiv geworden ist und dass sich zu viele ‚schwarze Schafe' auf dem Markt tummeln." Doch nicht die Kritik am gesamten Konzept verdeutlicht, wie stark die Desillusionierung die Mikrofinanzierung schnell im Griff hatte. „Auch methodisch sehr solide Forschungsarbeiten zeigen, dass Mikrofinanzierung arme Bevölkerungsgruppen nicht immer so sicher aus der Armutsfalle geführt hatte, wie man ursprünglich annahm. Auch wenn die Datenreihen dieser Arbeiten nur sehr kurz waren, wurde der Ruf der Mikrofinanzierung doch immens erschüttert", sagt Schmidt.
Doch wie groß sind die ethischen und moralischen Probleme nun wirklich? Der Grad, unter dem Deckmantel der Entwicklungszusammenarbeit nach Profit zu streben, ist schließlich schmal. „Ich sehe es trotzdem nicht anstößig, ein Mikrofinanzinstitut in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und Anteile an die Börse zu bringen", entgegnet Schmidt. „Trotzdem gibt es ein ethisches Problem — und zwar gerade wegen der Gründe für den enormen finanziellen Erfolg durch die Preispolitik der Institute", erläutert er weiter und erinnert an die teils grausamen Folgen des Superwachstums dieses Finanzmarktzweiges. Seit 2010 steckt die Mikrofinanzierung in der Krise. Vielerorts zahlen nur noch 20 bis 30 Prozent ihre Kredite zurück, in Indien nahmen sich mindestens 30 Frauen innerhalb von nur gut einem Monat das Leben, weil sie ihre Kleinstkredite von umgerechnet nur fünf Euro pro Woche nicht zurückzahlen konnten. Den Instituten warf man Erpressung und Gewaltanwendung beim Eintreiben der Forderungen vor — auch Zwangsprostitution steht auf der Liste der Anschuldigungen. Mit 26,5 Millionen Kreditnehmern ist Indien der mit Abstand größte Mikrokreditmarkt der Welt — das Volumen aller großen Institute liegt bei derzeit 5 Milliarden Euro, die Kundenzahl verhundertfachte sich in wenigen Jahren. Doch die Qualität der Kredite hält vielerorts nicht mit, die Aktienkurse brechen ein, die Unternehmen haben sich übernommen.
„Daraus wird deutlich, dass eine rein exzessive kommerzielle Ausrichtung höchst gefährlich ist", schlussfolgert Schmidt. Eigentlich eine Äußerung, die nach Finanzkrise und Bankenrettungen nicht verwundern sollte. Doch für die trotzdem noch junge Mikrofinanzbranche ist sie genauso neu wie die noch frische Desillusionierung. Und noch etwas anderes ist neu: Wenn die Armen nicht zahlen, verlieren dieses Mal auch die großen Banken.
Titelbild: Edd Sowden / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: University of Salford Press Office / flickr.com (CC BY 2.0)
World Bank Photo Collection / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Adil Khan / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann