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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen.
Digitale Wertungen erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit. Im Internethandel helfen sie, ein Bild von der Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen und Organisationen zu gewinnen; und sie setzen Anreize für Anstand und Verlässlichkeit. Sie sind insofern selbstorganisierter Verbraucherschutz und stellen Kreditwürdigkeit sicher. Auch auf den politischen Raum weitet sich das digitale Werten aus. Versuche, politische Partizipation neu aufzustellen, kommen nicht ohne aus, und immerhin konnte eine nach den schmucken fünf Bewertungssternchen benannte Partei die italienischen Parlamentswahlen gewinnen.
Avancierter ist das Sozialkreditsystem, das der chinesische Staat in Zusammenarbeit mit Software-Unternehmen wie dem auf Internet und Online-Spiele spezialisierten Tencent oder dem Amazon-Konkurrenten Alibaba entwickelt hat. Das Sozialkreditsystem vereint die Bereiche der Kreditwürdigkeit und der politischen Partizipation. Es analysiert via Blockchain-Technologie eine Unzahl von Transaktionen und Wertungen und verrechnet sie mit Posts, Likes und Kontakten aus sozialen Netzwerken, mit Daten aus Strafregister, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Einwohnermeldeamt, Überwachungskameras mit Gesichtserkennung usw. So hat es neben monetärer Kreditwürdigkeit und Verbraucherschutz auch soziale Beliebtheit und staatsbürgerliche Korrektheit im Auge.
Ehrenamtliches Engagement und familiäre Zuverlässigkeit führen zu einem besseren Kontostand – Nörgelei auf Ämtern, ein Gang über die rote Ampel oder Freundschaft mit kreditunwürdigen Menschen zu einem schlechteren (sie hängenzulassen, allerdings zu einem noch schlechteren – sie zu bessern, indes zu einem besseren). So werden ökonomisch-soziale Anreize für Ehrlichkeit und Anstand geschaffen, während asoziale Individuen von ihren Peers mit erzogen werden.
Es leuchtet ein, dass das Sozialkreditsystem in einem Land erfunden wurde, dessen Wachstum rasant vonstattengegangen ist, während Betrug und Korruption kaum unter Kontrolle zu halten waren – in einem riesigen Land mit extremer Migration und gigantischen Ballungszentren, wo vollständige Anonymität der Normalfall und Verbraucherschutz schwierig ist. Auch wird nach der Kulturrevolution ein Anreizsystem kaum als brutaler staatlicher Eingriff empfunden. Das System kommt vielmehr wie ein soziales Online-Spiel daher und erlaubt auch Gesellschaftsspiele wie das heitere Punktestandraten.
So befremdlich das Sozialkreditsystem in seiner staatlichen Zentralisierung der Daten auch scheint, so erstaunlich schwer fällt die Suche nach weiteren kategorischen Unterschieden zu hiesigen digitalen Praktiken. Auskunfteien errechnen auch in Deutschland die Kreditwürdigkeit der Bürger – zwar wurde dabei das Social Scoring mit Daten aus sozialen Netzwerken 2016 eingestellt, aber immerhin hatte dieser Gedanke offenbar nicht völlig ferngelegen.
Sonst gelten weniger Restriktionen für die Nutzung von Daten, die in Bestellungen, Likes und Google-Suchen, Online-Umfragen, Kontaktfrequenzen, Wortverwendung, Bildern, Stimme, Standort usw. hinterlassen werden.
Personalisierte Angebote und das Rating von Marktteilnehmern wappnen die Verbraucher auch hierzulande gegen eine allzu ausdifferenzierte und unüberschaubare Welt, in der man nicht weiß, an wen oder an welches Produkt man gerät. Die Komplexität der Welt verschwindet hüben wie drüben hinter der Benutzeroberfläche – man überlässt sie den Algorithmen.
Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings darin, dass sich im Westen die sozialen Wertungen (also das Prestige) noch nicht reibungslos in ökonomische Werte (also in Geld) umrechnen lassen. Anschaulich wird die Trennung anhand unterschiedlicher Bewertungssysteme: Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram versprechen und verrechnen soziale Anerkennung in Likes, Freundeszahlen und so weiter. Kreditbasierte Netzwerke wie Ebay, Amazon oder Zalando versprechen stattdessen reibungslose Transaktionen – in ihren Sternchenwertungen errechnen sie ökonomische Verlässlichkeit.
Das Sozialkreditsystem hingegen verspricht eine Vereinigung sozialer und ökonomischer Anerkennung. Es wurde, wie gesagt, federführend von dem auf soziale Netzwerke spezialisierten Unternehmen Tencent und dem auf Internethandel spezialisierten Alibaba entwickelt. Soziale Werte sollen mit monetären Werten verschmelzen. Der Name Sozialkreditsystem ist also treffend.
Diese Zusammenführung verspricht die Lösung eines alten Problems – nämlich desjenigen der Sicherstellung von Kreditwürdigkeit. Schon auf Wortebene ist dieser Begriff seinerseits zusammengesetzt aus einer Besitzsprache (Kredit) und einer Statussprache (Würdigkeit). Das aus dem Lateinischen bonitas abgeleitete Wort Bonität, also wörtlich „Güte“, schwankt ebenfalls zwischen monetärem und charakterlichem Gutsein, zwischen Zahlungsfähigkeit und Zahlungsmoral. Kreditwürdigkeit ist nicht allein ein ökonomisches, sondern auch ein soziales Phänomen.
Dass die Verrechnung dieser Sphären sowohl für das ökonomische Funktionieren von Gesellschaften als auch für das soziale Funktionieren von Märkten wichtig ist, das zeigen zwei Grundformen der Kreditwürdigkeit. Entweder man macht den Kredit als Würde oder aber die Würde als Kredit geltend. Unter Rückgriff auf die Berliner Schnauze anders formuliert: Entweder man verfährt nach dem „Haste was, dann biste was“-Prinzip, oder man präferiert umgekehrt ein „Biste was, dann haste was“.
An eine „Haste was, dann biste was“-Ökonomie sind wir gewöhnt: Je kapitalistischer eine Gesellschaft, desto mehr ist Kapitalbesitz auch in der Lage, Status zu generieren. Aber auch das radikale Gegenstück dieser Ökonomie – das „Biste was, dann haste was“-Prinzip – ist unserer Kultur nicht fremd. Mustergültig für eine solche Ökonomie war das mittelalterliche Lehenswesen. Dort entschied der soziale Status (die adelige Geburt) über einen vom Lehensherrn geliehenen Kredit – nämlich über Land und alle darauf befindlichen Güter (inklusive der leibeigenen Arbeitskräfte). Wer was war, der hatte deshalb was.
Bisher ließ sich keine der beiden Verrechnungsformen von Kredit und Würde unangefochten durchsetzen. Das Lehenswesen konkurrierte mit dem aufkommenden Kapitalismus der freien Städte. Konflikte zwischen allmählich verarmendem Adel (der noch was war, aber nichts mehr hatte) und kapitalistischen Emporkömmlingen (die umgekehrt was hatten, aber noch nichts waren) wurden zu einem über Jahrhunderte unerschöpflichen Themenlieferanten der Erzählliteratur.
Für den Kapitalismus des 20. Jahrhundert beschrieb umgekehrt der Soziologe Pierre Bourdieu Störungen des Kapitalflusses durch das „Biste was, dann haste was“-Prinzip: Er untersuchte, inwiefern Marktteilnehmer sich durch soziales Ansehen Marktvorteile sichern. Monetärer Kredit und soziale Würde sind bisher noch nie reibungslos ineinander verrechnet worden – im Gegenteil war ihre Inkompatibilität immer ein Konfliktherd und Instabilitätsgarant jedweden Wirtschaftssystems.
Das Sozialkreditsystem verspricht hier Abhilfe. Statuspunkte lassen sich dort gegen Spenden kaufen und stellen umgekehrt ein Kapital dar, das reibungslos Angebote, Kredite, Jobs usw. sichert. Eine wechselseitige Verrechnung von Status und Kapital wird möglich, Kredit und Würde laufen endlich zusammen.
Verrechenbar werden damit genau zwei gesellschaftliche Kernfaktoren, nämlich Wohlstand und Anerkennung. Für den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der 1992 die These von einem Ende der Geschichte aufstellte, war die Vereinigung dieser Faktoren maßgeblich für den Erfolg und die Stabilität der westlichen Wohlstandsdemokratien: Für den Wohlstand sorgte bei Fukuyama eine moderne Marktwirtschaft – für die Anerkennung die Möglichkeit zu politischer Partizipation. Wohlstand und Anerkennung wurden also in zwei verschiedenen Systemen – dem ökonomischen und dem politischen – ausbalanciert.
Das Sozialkreditsystem verspricht indes eine reibungslose Alternative ohne lästige Checks und Balances. Politische und ökonomische Person, Partizipation und Verbraucherschutz, Anerkennung und Wohlstand werden endlich vereint. Das totalitäre Moment dieses Systems liegt damit nicht allein in den zentralisierten Überwachungs- und Steuerungsmöglichkeiten des Staates. Es leitet sich auch aus der einst kommunistischen These her, dass man das Politische und das Ökonomische genauso wenig voneinander trennen könne wie das Private und das Öffentliche.
Zu bedenken ist allerdings, dass auch der Westen nicht weit entfernt ist von einer Zusammenführung der Daten aus sozialen Netzwerken und Internethandel. Eine solche latent kommunistische Aufhebung der Entfremdung von ökonomischem Besitz und sozialem Sein scheint mir weniger undenkbar als vielmehr der nächste logische Schritt des digitalen Kapitalismus zu sein.
Erwartet uns also ein neues und Software-gesteuertes, ein Kapitalismus und Kommunismus vereinendes Ende der Geschichte? Ein Ende der Geschichte 2.0? Das steht in den fünf Sternen.
Der Artikel ist am 24.09.2018 unter dem Titel „Bewerten wir uns zu Tode? Die totalitären Züge des digitalen Kapitalismus“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm