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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Zum Weihnachtsfest 1937 hatte sich Dr. Joseph Goebbels ein besonderes Geschenk für „seinen Führer“ ausgedacht. Mit dreißig amerikanischen Unterhaltungsfilmen verschiedener Länge, die in den vier Jahren seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ entstanden waren, aber in Deutschland nicht gezeigt werden durften, überraschte er den dankbaren Adolf Hitler.
Einen Hauptteil der Sammlung machten 18 Mickey-Mouse-Filme aus. Auf dieses zugleich atemberaubend und marginal wirkende Detail, das vor 20 Jahren dank der monumentalen Hitler-Monografie von Ian Kershaw aufgetaucht war, kam neulich der Medienhistoriker Volker Kopp zurück. Sein Buch über die „Geheimen Lieblingsfilme der Nazi-Elite“ weckt historisches Schaudern mit der Beschreibung endloser Filmnächte in der Berliner Reichskanzlei und auf Hitlers Feriendomizil „Berghof“ an der deutsch-österreichischen Grenze. Jetzt können wir uns auch seine, Hitlers, Himmlers und Görings Rührung über „Bambi“ oder „Dumbo“ als Teil des Programms vorstellen.
Zeichentrickfilme, deren Produktion damals gerade – vor allem in den Vereinigten Staaten – eingesetzt hatte (1928 war das Geburtsjahr von „Mickey Mouse“), gehörten früh zum Repertoire der Nationalsozialisten. 1938 verkaufte Walt Disneys Bruder Roy bei seinem Deutschlandbesuch an das Reichspropaganda-Ministerium eine Einzelkopie von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, der ersten Disney-Produktion in Spielfilmlänge.
Ausgerechnet die Schneewittchen-Legende soll Adolf Hitler am heiß-kalten Herzen gelegen haben – und dies bestätigte die Zufallsentdeckung des norwegischen Museumsdirektors William Hakwaag, der hinter einem 2008 in Deutschland ersteigerten Gemälde mit der Signatur „A. Hitler“ kolorierte Handzeichnungen mehrerer Zwerge aus dem „Snow White“-Film entdeckte, neben einer (unsignierten) Zeichnung derselben Hand von Pinocchio, dem Helden der Disney-Produktion von 1940. Nach dem Expertenurteil steht fest, dass der ehemals an der Aufnahme zur Wiener Akademie gescheiterte Kunststudent Hitler tatsächlich zu Anfang des Zweiten Weltkriegs als Reichskanzler – und nicht ohne technische Kompetenz – die weichen Konturen der Disney-Figuren nachgezogen hatte.
Die Sympathie war nicht einseitig, was die bizarren Entdeckungen der vergangenen Jahre zu einem abgründigen Geschichtssymptom macht. Als Leni Riefenstahl, die spätestens mit ihrem Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele in Berlin von 1936 zu einem von den Nazigrößen hofierten Star avanciert war, im Dezember 1938 nach Kalifornien kam, führte Walt Disney sie persönlich durch seine Studios. Und dies, obwohl im Monat zuvor die Verbrechen der „Reichskristallnacht“ auch in den USA Schlagzeilen gemacht hatten.
Disneys Geste scheint keine Routinehöflichkeit und auch keine ideologische Ausnahme gewesen zu sein. Viele seiner Mitarbeiter haben sich von rassistischen Bemerkungen ihres Chefs distanziert und ihm eine Nähe oder gar eine Mitgliedschaft in dem von der NSDAP geförderten „German American Volksbund“ unterstellt. Dagegen stand die Beteuerung anderer Angestellter – unter ihnen einige Afroamerikaner – Disney habe sie als ein stets zugewandter und fördernder Vorgesetzter beeindruckt. Die Apologeten verwiesen auf den Propagandafilm „Education for Death“, den ihre Firma während der Schlacht von Stalingrad für die amerikanische Regierung hergestellt hatte. In zehn Minuten bewegter Zeichnungen erzählte er den Weg des ideologisch geblendeten Hitlerjungen Hans in einen Rausch von Zerstörung – und in den eigenen Tod.
Nach Kriegsende trat Walt Disney der Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals bei, denunzierte Kollegen vor dem Senatskomitee wegen „un-American activities“ und beeindruckte Hardliner-Freunde mit seinen unversöhnlichen Reaktionen auf Streiks in der eigenen Firma, die er als Zeichen von Undankbarkeit auffasste. Denn Disney wollte von seinen Untergebenen geliebt werden und sie im Gegenzug fürsorglich unterstützen. Dieser fragile Paternalismus erklärt seine politische Ambivalenz zwischen aktiver Sorge für die Belegschaft und aggressivem Widerstand gegen ihre politischen Aktionen – aber auch eine besondere Verletzlichkeit. In Hollywood war Disney als ein schüchterner Mann bekannt, der seine Ängste hinter der freundlichen Fassade eines für jene Zeit typischen Unternehmeroptimismus verbarg.
Unter ganz anderen, stets schicksalhaft-dramatischen Vorzeichen ging auch durch Hitlers Reaktionen auf die Disney-Welt eine tiefe Ambivalenz. Während in den ersten Regierungsjahren gelegentlich kritische Bemerkungen oder milde Witze über den Führer weisungsgemäß zu tolerieren waren, verhängte er ein striktes Verbot über die Gattung der Karikatur und über die Aufführung von Zeichentrickfilmen in deutschen Kinos. Die Mickey-Mouse-Figur kanzelte er offiziell als „degeneriert tanzenden Idioten“ ab. Zugleich stand das Propagandaministerium unter dem Druck des Befehls aus der Reichskanzlei, eine eigene deutsche Gattung des Zeichentrickfilms zu begründen. Dies ist Goebbels bis an sein Lebensende nicht gelungen.
Was die wechselseitige Faszination von Disney und Hitler so überraschend wirken lässt, hat mit unseren eigenen Standardprämissen zu tun. Die visuelle, erzählerische und natürlich auch musikalische Tonalität der Disney-Filme assoziieren wir mit einem golden-pädagogischen Blick, in dem sich selbst Erwachsene gerne sonnen, während die geschichtliche Erinnerung an den Nationalsozialismus für die höchste Konsequenz in der Industrialisierung des Tötens steht. Es ist nicht einfach, zwischen solchen Extremen eine gemeinsame Matrix zu finden, welche die Sympathie zwischen dem Nationalsozialismus und der Disney-Welt zu verstehen hilft.
Für die meisten seiner Filme wählte Walt Disney Vorgaben, die auch Adolf Hitler gefielen – oder gefallen hätten. Das Märchen von Schneewittchen stammte aus der 1812 veröffentlichten „Volks- und Hausmärchen“-Sammlung der Brüder Grimm, die als angeblicher Spiegel der deutschen Seele hoch im Kanon der Nazis stand. Doch andere Stoffe, an denen sie nicht weniger Gefallen fanden, hatten keinen deutschen Ursprung. Entscheidend war stattdessen ihre Konvergenz in jener Stimmung, die auf Englisch „bittersweet“ heißt. Deren Protagonisten erleben wir als von einem schweren Schicksal gezeichnet – aber auch als unfähig, sich davon selbst zu befreien. Deshalb wecken sie in der Vorstellung der Leser oder Zuschauer den Impuls von Erlösungstaten, durch die man die Opfer des Schicksals in Dankbarkeit und Unterwerfung an sich binden kann. Schneewittchen ist eine Prinzessin, die im schwarzen Schatten der Mordgelüste einer ebenso eifersüchtigen wie übermächtigen Stiefmutter lebt.
Die von Disney gegenüber der Ursprungsversion durch individuelle Namen (wie „Grumpy“, „Bashful“ oder „Dopey“) in den Vordergrund gerückten erzgrabenden Zwerge, bei denen das schöne Mädchen Schutz und Zuneigung findet, sind vertikal vom Schicksal geschlagen – allerdings ohne jede Hoffnung auf Erlösung durch einen verspäteten Wachstumsschub. Eben auf sie konzentrierte sich Hitler in den wiederentdeckten Zeichnungen – und darin könnte sich sein dominantes Verhältnis zur sozialen Umwelt gespiegelt haben. Denn viel vom Sozialismus der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei lag ja in einer väterlichen Freundlichkeit gegenüber treuen Anhängern und Bewunderern, welche (wie die Zwerge aus „Schneewittchen“) keine Aufstiegschancen mehr hatten und deshalb auch nie mehr zu Rivalen um die Macht werden konnten: vor allem gegenüber Weltkriegsveteranen, aber auch gegenüber Müttern, deren Leben sich in Schwangerschaften aufgezehrt hatte, oder gegenüber Männern und Frauen, an denen alle Möglichkeiten der Bildung und Ausbildung vorbeigegangen waren.
Mythen der Erlösung standen am Beginn aller europäischen Faschismen. Etwa der Mythos von den italienischen Landstrichen, die durch das österreichisch-ungarische Reich und später das nach 1918 gegründete und von den westlichen Alliierten protegierte Jugoslawien „besetzt“ waren, um zuerst von Gabriele D’Annunzio und bald auch von Benito Mussolini zurückgefordert zu werden; und vor allem die Legende vom verschwörerischen „Dolchstoß“ gegen das sich „unbesiegt“ fühlende deutsche Heer im Weltkrieg, dessen Rache der ehemalige Frontgefreite Adolf Hitler in einem neuen Weltkrieg zu vollziehen versprach.
Das Motiv kehrt in allen klassisch gewordenen Disney-Filmen wieder: in „Pinocchio“ mit der Marionette aus Holz, die ein wirklicher Bub sein möchte – und am Ende wird (1940); in „Dumbo“ und der Geschichte vom kleinen Elefanten mit den großen Segelohren, der früh seine Mutter verliert (1941); oder bei „Bambi“ (1942), dem von Jägern bedrohten Rehkitz, das ebenfalls bald zum Waisen und doch seinem Vater als „König der Wälder“ nachfolgen wird. Schließlich starb Adolf Hitler zu früh, um sich „Peter Pan“ (1954) zu Gemüte zu führen – und einen Impuls der Sympathie für die ohne Erlösung dahinlebenden „lost boys“ zu empfinden.
Träumer wie er und Disney haben sich das kollektive Glück nach Eintreten der Erlösung als ein hierarchisches Paradies vorgestellt. Schneewittchen konnte sich ja auf den Prinzen verlassen, der sie wachküsste und in die Paläste zurückführte. Aber die Zwerge würden für immer Zwerge bleiben und deshalb eine – risikofrei herablassende – Sympathie verdienen; so wie die Disney-Angestellten immer Angestellte bleiben sollten, für die Walt sorgen wollte; und so wie die Deutschen wohl nach einem Sieg im Zweiten Weltkrieg mit zu Hitler aufschauender Dankbarkeit weitergelebt hätten. An diesen Blick auf die auch nach einem Erlösungsereignis schutz- und unterstützungsbedürftigen anderen schmiegt sich der Strich der Disney-Figuren.
Weder Geli Raubal noch Eva Braun, die beiden – viel jüngeren – Frauen in Adolf Hitlers Leben, hat er mit ähnlich fester Zuneigung geliebt wie die Schäferhündin Blondi, zu deren „Treue“ es keine Alternative gab, weil sie nicht vom Tier zum Menschen werden konnte. Einem von Blondis Welpen gab er den Namen Wolf, mit dem er sich selbst von den Freunden anreden ließ.
Am 29. April 1945, dem Tag von Hitlers Hochzeit mit Eva Braun, ließ er Blondi mit einer Zyankalikapsel töten – und war für die verbleibenden 40 Stunden seines Lebens „untröstlich“. Bis heute schmückt die Nation, der sich Adolf Hitler als Erlöser verbunden glaubte, ihre sonnigen Vorgärten mit Gartenzwergen, Vettern der Zwerge aus „Snow White“. Die Disney-Zwerge allerdings sind schon deswegen weniger peinlich, weil wir sie nur im Kinodunkel und für eineinhalb Stunden gerne haben.
Der Artikel ist am 26.09.2018 unter dem Titel „Warum Hitler Walt Disneys Filme verehrte“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm