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Als Deutsch-Französin ist Michelle Sun in den österreichischen Alpen aufgewachsen. Inspiriert durch die Mitarbeit an einem afghanischen Musikprojekt, wandte sie sich als Quereinsteigerin aus der Musikwissenschaft kommend in ihrem PAIR-Master in Politics, Administration & International Relations an der Zeppelin Universität insbesondere den Internationalen Beziehungen zu. Die Sciences Po in Paris schärfte ihr Interesse an Themen der Internationalen Zusammenarbeit und der Menschenrechte. Während eines Praktikums in Nairobi, Kenia, lernte sie die faszinierende Filmwelt des afrikanischen Kontinents kennen, die sie in ihrer Masterarbeit zur nigerianischen Filmindustrie untersucht hat. Seit März verbindet Michelle Sun all diese Erfahrungen bei der Europäische Kommission in Brüssel, wo sie im Bereich internationaler Kulturdiplomatie arbeitet. Als studentische Gleichstellungsbeauftragte, Vorstandsmitglied des Club of International Politics e.V. und Mitglied der Blauen Blume e.V. hat sie sich an der Zeppelin Universität in vielfältiger Weise engagiert.
Übrigens: Angeführt wird die Welt des Films – anders als von vielen vermutet – nicht von Hollywood, sondern vom schillernden Bollywood-Universum. Doch während seit einigen Jahren immer mehr Bollywood-Produktionen den Sprung in die Mainstream-Kreise schaffen, sind Filme aus Nigeria nur schwierig aufzufinden. Noch kniffliger wird es bei Produktionen aus anderen sogenannten Entwicklungsländern.
Diese Diskrepanz zwischen den extrem hohen Produktionszahlen und dem regionalen Erfolg auf der einen und der geringen weltweiten Wahrnehmung auf der anderen Seite war nur die erste von vielen überraschenden und kuriosen Beobachtungen im Zuge dieser Forschung. Das Kerninteresse der Arbeit besteht darin, wie Projekte der Internationalen Zusammenarbeit die Kultur- und Kreativindustrie in „Entwicklungsländern“ fördern und wie sie verbessert auf regionale Bedingungen eingehen könnten. Nollywood fungiert dabei als Beispiel: Die Arbeit untersucht dessen spezifische Produktions- und Distributionsmechanismen und definiert diese im Rahmen von Regionalisierungstheorien und Manuel Castells’ „4th World Theory“. Die zu Beginn identifizierte Diskrepanz kann somit durch Nollywoods Abgeschiedenheit von den global dominierenden Filmnetzwerken und seiner gleichzeitig existierenden charakteristischen und genauso weitläufigen, alternativen Netzwerke erklärt werden.
Als auch aus ökonomischer Perspektive relevantes Konzept hat die sogenannte Kultur- und Kreativwirtschaft in den vergangenen Jahren an Ansehen und Bedeutung gewonnen. Bezeichnend dafür waren unter anderem Werke wie Richard Floridas „The Rise of the Creative Class“. Aber auch der von UNCTAD 2010 veröffentlichte „Creative Economy Report“ konzentriert sich sehr auf quantitative Aspekte der Kulturindustrie und bestärkt unter anderem deren Potential im Rahmen erfolgreicher Internationaler Zusammenarbeit.
Afrikas bevölkerungsreichster Staat ist in vielen Wirtschaftssektoren ein Vorreiter auf dem Kontinent und weitet seinen kulturellen sowie ökonomischen und politischen Einfluss fortwährend aus. 2014 überholte Nigeria die bis dahin regional führende Filmindustrie Südafrikas mit einer für die Forschungsarbeit höchst interessanten Entscheidung: Die Regierung revidierte ihre BIP-Berechnungen, indem sie unter anderem Nollywood und die Musikindustrie berücksichtigte. Somit stieg Nigerias BIP über Nacht um beinahe 90 Prozent!
Aktuellen Schätzungen zufolge produziert Nollywood jährlich bis zu 2.500 Filme. Und das geschieht in beinahe unwirklicher Geschwindigkeit: Die durchschnittliche Produktionszeit eines Films beträgt um die vier Wochen. Die Filmindustrie repräsentiert aktuell circa 7,2 Milliarden Dollar beziehungsweise 1,5 Prozent des nigerianischen BIP. Sie beschäftigt mehr als eine Million Menschen direkt oder indirekt und ist somit der zweitgrößte Arbeitssektor des Landes nach der Landwirtschaft. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Ansicht, dass Kultur als Luxusgut nur zum Vergnügen (und wenn überhaupt zur Stärkung sozialer Aspekte oder eventuell politischer Ansichten) dient, gibt es also genug Anzeichen dafür, dass eine erfolgreiche Kulturindustrie unter anderem auch einen ökonomisch bedeutsamen Beitrag für einen Staat leisten kann. Damit jedoch Kulturindustrie und Staat gleichermaßen profitieren können, müssen einige strukturelle Rahmenbedingungen erfüllt sein.
Auch hier lohnt sich ein genauerer Blick nach Nigeria und auf die besonderen Charakteristika seiner Filmindustrie. Nollywood entwickelte sich fernab von jeglicher staatlichen Unterstützung. Meist informell und intransparent, operiert der Sektor auch heute noch weitgehend losgelöst sowohl von der nationalen Regierung als auch von globalen Netzwerken der Medienproduktion und -verteilung. Die nigerianische Filmindustrie ist somit ein perfektes Beispiel für die von Manuel Castells definierte „Vierte Welt“ abseits von allgemeiner Bekanntheit und der global dominierenden Netzwerke.
Die Unabhängigkeit – auch von ausländischer Förderung – ist ein Aspekt, auf den viele von Nollywoods Akteuren besonders stolz sind. Denn so hat sich Nollywood sozusagen „von innen heraus“ – ohne staatliche Intention oder Intervention – entwickelt. Zudem erlaubt es diese Unabhängigkeit, eigene Inhalte zu verarbeiten und Perspektiven zu vermitteln, ohne auf die Ziele und Vorlieben externer Institutionen achten zu müssen. Der Fokus der Produktionen auf „African Stories“ ist einer der Gründe für Nollywoods herausragenden Erfolg auf dem Kontinent und in der weltweiten Diaspora.
Gleichzeitig bergen gerade diese typischen Charakteristika der informellen Produktion ohne staatlichen Rahmen und der Intransparenz viele Probleme wie beispielsweise Korruption, Machtkämpfe zwischen den zahllosen Produktionsfirmen und Berufsgilden, mangelnder Schutz der einzelnen Arbeitnehmenden, um nur Einige zu nennen. Eines der größten Probleme, um Anschluss an und größere Verbreitung auf dem internationalen Markt zu finden, sind dabei vor allem Fragen des Urheberrechts und der angemessenen Vergütung. Diese stehen eng mit einem funktionierenden staatlich-legalen Rahmen in Zusammenhang.
Während die bisher weitestgehende Unabhängigkeit wichtig für Nollywoods Identität ist, könnte eine Förderung nicht nur im finanziellen, sondern vor allem auch im programmatischen und strukturellen Sinn, die an diesen Problemen ansetzt, die erfolgreiche Weiterentwicklung der Industrie unterstützen. Am wichtigsten scheint dabei die Ermöglichung eines Zugangs zum internationalen Markt. Eine qualitative Inhaltsanalyse relevanter Grundsatzpapiere und ehemaliger sowie laufender Projekte multilateraler, regionaler und nationaler Akteure der Internationalen Zusammenarbeit bestätigt, dass die meisten Institutionen versuchen, die internationale Verbreitung der Produktionen aus dem „globalen Süden“ zu erleichtern. Allerdings wird meist gleichzeitig auch eine stärkere Formalisierung der Industrie angestrebt. Dies ist insofern kritisch zu bewerten, als dass es oftmals gerade die informellen Charakteristika sind, die es unter anderem zahlreichen Filmschaffenden erlauben, mit wenig Startkapital eigene Filmproduktionen auf den Markt zu bringen. Und schließlich ist es diese Vielzahl an kleinen unabhängigen Produktionen, die Nollywood so lebendig und einzigartig machen.
Wie könnte also die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft im Rahmen der Internationalen Zusammenarbeit verbessert werden, um die Rolle dieses Wirtschaftssektors in „Entwicklungsländern“ auch in ökonomischer Hinsicht nachhaltig zu stärken? Insbesondere die Anbindung an global vorherrschende Mediennetzwerke muss verbessert werden, um die internationale Verbreitung zu erleichtern. Wichtig dabei sind der Respekt vor und der Erhalt der bereits vorhandenen und funktionierenden Mechanismen vor Ort. Zudem muss die Unabhängigkeit, eigene Inhalte zu thematisieren, erhalten bleiben.
Eine solche Förderung würde nicht nur Filmindustrien des „globalen Südens“ darin unterstützen, sich unter Gebrauch der eigenen typischen Charakteristika und der gegebenen regionalen Rahmenbedingungen zu entfalten. Sie würde zudem kulturelle Diversität im Sinne der UNESCO erhalten und fördern. Durch einen erleichterten Zugang zu den globalen Medienströmen würde das Mainstream-Repertoire um Perspektiven und Ansätze erweitert, die für viele im „globalen Norden“ bisher unbekannt sind. Schlussendlich würde dies auch den „westlichen“ Blick auf die sogenannten Entwicklungsländer verändern, indem den Stimmen solcher Länder mehr Platz und Beachtung auf der internationalen Medienbühne gegeben würde.
Wer nach Filminspirationen für den Herbst sucht: Mittlerweile werden ein paar nigerianische Filme auf Streaming-Plattformen wie Netflix angeboten. Echte Nollywood-Fans finden ihr Glück auf der nigerianischen Plattform iRoko. Doch es bleibt zu hoffen, dass wir in Zukunft vermehrt Filme nicht nur aus Nigeria, sondern auch aus vielen anderen Ländern sehen werden.
Titelbild:
| Denise Jans / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Muhammadtaha Ibrahim Ma'aji / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Werk ohne Autor (CC BY 2.5) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Michelle Sun
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm