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Schließen Sie die Augen und visualisieren Sie bitte die folgende Geschichte so konkret, wie es geht, in Ihren Vorstellungen:
Sie verlassen Ihr Zuhause auf dem Weg zur Arbeit. Unterwegs läuft Ihnen ein Paketzusteller über den Weg, der sich nach dem Namen der Nachbarn erkundigt. Sie helfen ihm weiter. Wenig später erreichen Sie Ihre Arbeitsstätte und betreten das Bürogebäude. Dort begrüßen Sie freundlich die Reinigungskraft, die wie jeden Morgen dabei ist, den Boden zu wischen. Und noch bevor Sie Ihren Computer starten, erhalten Sie schon den ersten Anruf vom Management mit einer Beschwerde über die Arbeit des gestrigen Tages.
Nun beantworten Sie bitte folgende Fragen: Sprach Sie der Paketzusteller mit einem ausländischen Akzent an? Handelte es sich bei der Putzkraft um eine Frau? Wenn Sie an das Management denken, denken Sie dann an einen älteren Mann mit heller Hautfarbe?
Ob Ihre Vorstellungen den Beschreibungen entsprechen oder davon abweichen, bleibt natürlich Ihr Geheimnis. „Wenn Sie es schaffen, diese Bilder in Ihrem Kopf zu erkennen“, sagt Ruth Hartmann, „dann haben Sie schon den allerwichtigsten Beitrag dafür geleistet, einen Rahmen zu gestalten, in dem alle eine faire Chance haben, sich individuell zu entfalten.“
Ruth Hartmann arbeitet für den Drogeriemarkt Rossmann und leitet dort den Prozess „Vielfalt und Chancengleichheit“. In einem Unternehmen mit 38.000 Mitarbeitenden jedweder Lebenswelt ist das eine große Aufgabe – möglicherweise eine unlösbare. Denn was Hartmann nicht wird lösen können, ist, dass die vielen Menschen, die bei Rossmann arbeiten, aus unterschiedlichen Milieus kommen und allein dadurch ungleiche Chancen erhalten, einen für sich zufriedenstellenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Das Leben ist nicht fair. Die Realität kann Ruth Hartmann nicht ändern.
Aber was Ruth Hartmann ändern kann, sind die Vorstellungen, die die Mitarbeitenden von Rossmann in ihrem Kopf haben: über Kolleginnen und Kollegen und über andere Abteilungen – sei es Management, Verkauf oder Logistik. Alle haben ihre Vorstellungen voneinander und sie alle können für Probleme verantwortlich sein.
Wenn Führungskräfte beispielsweise bei Entscheidungen ihre Vorstellungen zurate ziehen, kann es passieren, dass sie damit, ohne dass sie es wollen, eine diskriminierende Situation erzeugen. Mit einer Bratwurstbude für die Abteilungsfeier der Lastwagenfahrer kann man nichts falsch machen, oder?
Hm. Eine Bratwurst wird die Mitarbeitenden muslimischen Glaubens ausschließen, das alternative Rindersteak die Mitarbeitenden hinduistischen Glaubens. Bei einem Unternehmen mit 38.000 Menschen geht es nicht um Einzelfälle. Eine falsche Vorstellung hinterlässt Spuren: in der Belegschaft, in deren Leben, in der Gesellschaft.
All das erzählt Ruth Hartmann als Keynote-Speakerin bei der Karrieremesse ZUtaten an der Zeppelin Universität. „Wie beuge ich Diskriminierung am Arbeitsplatz vor?“ und „Wie gelingt es, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der sich alle wohlfühlen?“, lauteten die Fragestellungen, mit der sie sich beschäftigen soll:
Um die Fragen zu beantworten, spricht sie eben über jene „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“. Nicht über Ungleichheit, wohlgemerkt, die man nicht zu erklären braucht, weil sie immer da ist und die jeder sowieso erkennt und versteht.
Doch was man nicht auf Anhieb sieht, sind die ungleichwertigen Vorstellungen in den Köpfen der Menschen. Vor allem nicht diejenigen in unserem eigenen Kopf. Aber wenn wir die Realität verändern wollen, müssen wir zuerst unsere Vorstellungen im Kopf ändern. Denn diese Vorstellung beeinflussen uns dabei, welche Entscheidungen wir treffen, die wiederum die Realität mitgestalten.
Erst dann, wenn unsere eigenen Vorstellungen gleichwertig sind, können wir eine gleichwertige Lebenswelt erschaffen, in der alle Menschen dieselben Chancen haben, einen für sich zufriedenstellenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Das, erklärt Ruth Hartmann, ist jedenfalls ihr Antrieb, jeden Tag aufs Neue den Kampf gegen die Ungleichheit in der Welt aufzunehmen. Und der erste Schritt sei es, sich die Vorstellungen im eigenen Kopf zu vergegenwärtigen. Möglicherweise haben wir mit der Gedankenreise den ersten Schritt in eine bessere Welt getan.