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„Das Betriebssystem des Rassismus sind bestimmte Wortlaute und Redewendungen“, erklärt Redecker. Damit ließe sich Rassismus im ersten Schritt erkennen. Doch das reicht Redecker nicht. Sie will auch verstehen, warum er überhaupt auftritt. Warum werden latent schwelende Vorurteile plötzlich ‘aktiviert’ und treten als offener Rassismus auf?
Viele Formen des heutigen Rassismus funktionierten über Herrschafts- oder Besitzansprüche, erklärt Redecker. Sie stellte fest, dass sich rechte Wut oft um ein Verlustnarrativ formiert, „um etwas, das einem zusteht und das einem schmerzhaft genommen wurde“. Redecker nennt das „Phantomschmerz“ - den Wunsch, zu kontrollieren, wo nichts mehr zu kontrollieren ist.
Rassismus komme aber nicht nur von rechts. Linksliberaler Rassismus entstehe aus einem Gefühl der Emanzipation und des Fortschritts. Einige hätten bereits einen gewissen Fortschritt erreicht, den andere noch vor sich hätten. Daher könne man sich die Nachzügler ideologisch aneignen, sie zu einem „Phantombesitz aus Progressivität“ machen.
Dieser Phantombesitz hänge eng mit dem modernen Eigentumsbegriff zusammen, vor allem mit dem der Sachherrschaft. „Jede Herrschaft in der Moderne ist irgendwo Sachherrschaft, weil etwas zu Eigentum gemacht wird“, so Redecker. So sei auch das Patriarchat durch modernes Eigentum vermittelt, etwa wenn Redecker das Kinderkriegen als „Reproduktionsarbeit“ der Frau als Eigentum des Mannes begreift. Generell beobachtet sie eine Tendenz zur „Aneignung des äußeren Lebens“, die oft mit einer Verdinglichung des Menschen einhergehe. Zum Beispiel, wenn manche Menschen über den Aufenthaltsort anderer Menschen entscheiden.
Alle modernen Subjekte seien Phantombesitzer ihrer selbst, sagt Redecker: „Niemand hat nichts. Alle haben sich selbst“. Und das sei auch gut so: Das moderne Subjekt müsse Eigentümer seiner selbst sein, um in den Genuss seiner Freiheit zu kommen. Das Gute daran: Es ist kein Nullsummenspiel. „Die größere Freiheit des einen ist nicht die geringere Freiheit des anderen“, so Redecker. Aber ist man in seiner Freiheit souverän, wenn man nur sich selbst hat? Redecker fragt, welcher Teil von einem der Besitzer seiner selbst ist und welcher Teil das besessene Objekt.
Eva von Redecker ist eine deutsche Philosophin, Schriftstellerin und Publizistin. Im Rahmen des Symposiums „Angst, Ressentiment, Spaltung | Ein Symposium zwischen Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichem Engagement“ sprach sie am 30. November 2023 über ihr selbst entwickeltes Konzept des Phantombesitzes.
Das zweitägige Symposium, das vom artsprogram der Zeppelin Universität organisiert wurde, beschäftigte sich intensiv mit den Emotionen Angst, Abscheu und Ressentiment als negative Emotionen, aus denen populistisches Denken und Autoritarismus entstehen.