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Nachdem sie ihr Bachelor-Studium in Public Management & Governance (PMG) an der Zeppelin Universität absolvierte, studiert Lena Schulze-Gabrechten (24) nun an der Universität Potsdam im Masterstudiengang Public Policy and Management weiter. Ihre Abschlussarbeit trug den Titel „Entscheidung über Rücktritt als Reformversuch im politischen System“. Schulze-Gabrechten engagierte sich im Bereich der Universitätsentwicklung im Amt der studentischen Vizepräsidentin, darüber hinaus war sie eine der Gründerinnen der grünen Hochschulgruppe Rework und Studienstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.
Am 09. Januar 2001 warf Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer von den Grünen das Handtuch – „mit Stil“, wie der Spiegel konstatierte. Im Dezember 2000 war die BSE-Krise auf ihrem Höhepunkt angelangt und Fischers Krisenmanagement stand in der Kritik. Laut Grünen-Fraktion habe Gesundheitsministerin Andrea Fischer mit ihrem Rücktritt als Erste die politische Verantwortung für den „Gau der industrialisierten Landwirtschaft“ übernommen. „Die eigentliche Ursache für die Krise“, wird sie zitiert, „liegt in der industrialisierten Landwirtschaft, in wirtschaftlichen Interessen, die dominierten.“
Manche Bundesminister scheinen an ihren Sesseln zu kleben, andere ziehen schnell die Reißleine – welche Gründe genau lassen einen Politiker zurücktreten?
Lena Schulze-Gabrechten: Medial zugeschriebene Gründe für eine vorzeitige Amtsbeendigung gibt es immer viele, doch diese sind in vielen Fällen nicht eindeutig. Die politikwissenschaftliche Kategorisierung für Rücktritte unterscheidet außerpolitische und politische Anlässe. Ein Beispiel für so einen außerpolitisch veranlassten Rücktritt wäre der Fall Guttenberg, da die Aufnahme staatsanwaltlicher Untersuchungen und nicht seine Ministerarbeit zum Rücktritt führte. Ich habe mich auf politische Anlässe konzentriert. Darunter fällt in der Literatur beispielsweise ein Rücktritt, geschieht er aufgrund von Fehlern und Pannen, die in der Ressortverantwortlichkeit des Ministers liegen.
Doch bekanntermaßen erfolgt nicht bei jedem „Fehler“ eines Ministers automatisch der Rücktritt…
Schulze-Gabrechten: Entscheidend ist dabei laut empirischer Analysen die Unterstützung des Bundeskanzlers und die der eigenen Partei. Fehlt diese, ist der Rücktritt unvermeidlich, zumindest bei in die Rücktrittsdiskussion gekommenen Ministern. Nach der Beschreibung des „state of the art“ für eine spezifische Rücktrittskategorie habe ich einen solchen Fall - den der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer - aus soziologischer Sicht untersucht.
Warum beschreiben Sie den Rücktritt als Reformversuch im politischen System?
Schulze-Gabrechten: Die eben beschriebenen Kategorien haben mir geholfen zu sortieren, doch mich interessierte etwas abstrakter die Funktionsweise des Rücktritts im politischen System. Die Formulierung des Rücktritts als Reformversuch im politischen System bietet einen anderen Erklärungsansatz dafür, warum der politische Rücktritt in unsicheren Situation eine Möglichkeit bietet, das Problem vermeintlich zu lösen: durch die Rücktrittsentscheidung. So zum Beispiel während des BSE-Skandals in der Amtszeit von Andrea Fischer. Dem geht eine Personalisierung des Problems mit medialer Hilfe zuvor: Eine Ministerin, die ihr Ministerium nicht angemessen führen kann, wird als der Rolle nicht entsprechend beobachtet und eine Neubesetzung, eine Personalentscheidung, verspricht eine Verbesserung der Lage.
Ein Bauernopfer statt Veränderung?
Schulze-Gabrechten: Meistens ist ein Rücktritt eben nur ein Versuch und keine richtige Reform. Eine Reform wäre die Struktur des Amtes zu verändern und nicht nur die Person vorzeitig auszutauschen – an den Personenwechsel sind alle, insbesondere die Staatsorganisation, gewöhnt.
Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen und welche spezifischen Ergebnisse lieferte die systemtheoretische Betrachtung?
Schulze-Gabrechten: Neben
den Rücktrittsregistraturen, also der Sortierung der Anlässe und
Analyse der Akteurskonstellationen, wäre es sehr lohnend, die Sinfonie
des Rücktritts zu betrachten. Zumindest für die Fälle, die ich
explorativ untersucht habe, haben die Rücktritte in ihren Mechanismen
Gemeinsamkeiten. Und aus systemtheoretischer Sicht komme ich in der
Arbeit zu dem Ergebnis, dass diesen Rücktritten eine stabilisierende
Funktion zukommt. Er ist etwas ganz und gar nicht Dramatisches. Außerdem
ergab mein Literaturstudium, dass die Staatsorganisationen,
insbesondere das entsprechende Ministerium, zu wenig in Betracht
gezogen werden, denn letztlich fußen viele Rücktrittsforderungen und
Rücktritte auf einer nicht wahrgenommenen oder vermeintlich falsch
wahrgenommenen Ressortverantwortlichkeit durch den Minister.
Bilder: Bertram Rusch; Deutscher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde