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Professor Dr. Helmut Willke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Global Governance und hat zudem Gastprofessuren in Washington, D.C., Genf und Wien inne. Der studierte Rechtswissenschaftler und Jurist lehrte zuvor in Bielefeld und wurde 1994 mit dem Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willke forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen globale Netzwerke und Steuerungsregime, sowie System- und Staatstheorie.
“Political Governance of Capitalism: A Reassessment Beyond the Global Crisis”, so der Titel des neuen Buches von Professor Dr. Helmut Willke, das er gemeinsam mit seinem Bruder Gerhard Willke verfasst hat. Es ist soeben bei Edward Elgar Publishing Ltd erschienen. Willke argumentiert darin, dass die global operierende Finanzindustrie ein Gegengewicht in ebenfalls globalem Rahmen benötigt, das auf klaren Regeln beruht. Nur damit könne die Finanzindustrie wieder in die Realwirtschaft eingebunden und eine Balance zwischen risikobehaftetem und verantwortungsbewusstem Handeln wiederhergestellt werden.
„Wenn die Märkte verrücktspielen, muss es ein paar Erwachsene geben, die den Unsinn stoppen“, so das Credo des vor einer Woche verstorbenen Ex-Chefvolkswirts der Deutschen Bank, Norbert Walter. Welche Erwachsenen könnten das sein?
Professor Dr. Helmut Willke: Zunächst muss es klare Regeln geben – das ist bislang nicht der Fall. Weder die Regierungen der Nationalstaaten können das globale Finanzsystem regulieren, weil ihre Reichweite begrenzt ist, noch gibt es eine übergreifende globale Regulierungsinstitution - wie etwa die WTO für den globalen Handel –, die verbindliche Regeln setzen könnte. Daher sind wir auf längere Sicht auf ein möglichst gut koordiniertes Zusammenspiel der wichtigsten Regierungen mit den wichtigsten Einrichtungen des globalen Finanzsystems angewiesen: Weltbank, IMF, Financial Stability Board, Basler Komitee für Bankenaufsicht und weitere. Im Übrigen: Nicht die Märkte spielen verrückt, sie tun genau das, was Märkte tun, sondern eine ganze Reihe von Marktakteuren spielt verrückt.
In diesem Zusammenspiel wird der Politik inzwischen gar Handlungsunfähigkeit vorgeworfen…
Willke: Tatsächlich sind die nationalen Politiksysteme gegenüber einem global agierenden und vernetzten Finanzsystem weitgehend hilflos. Dennoch könnten sie mit einer international gut koordinierten Politik durchaus etwas ausrichten. Genau an diesem Punkt setzen sich aber nationale Egoismen und Kurzsichtigkeiten gegen die Erhaltung globaler Kollektivgüter durch, weil gerade demokratische Regierungen sich am kurzfristigen Wahlerfolg orientieren. Dem Durchschnittsbürger sind die Komplexitäten und komplizierten Details des Finanzsystems völlig fremd - damit lassen sich keine Wahlen gewinnen.
Wer kümmert sich stattdessen?
Willke: Hier schlägt die Stunde der ExpertInnen und der professionellen Institutionen. So wie die Geldpolitik der Tagespolitik entzogen und einer Fachinstitution, den Zentralbanken, überantwortet ist, so müssen in der sich entwickelnden Wissensgesellschaft weitere hochkomplexe Problemfelder aus der Tagespolitik herausgenommen werden, weil der Normalwähler dazu nicht das Geringste zu sagen und beizutragen hat. Wenn diese Institutionen mit fachlicher Autonomie ausgestattet werden, aber von der Politik berufen und beaufsichtigt werden, dann sehe ich kein ernsthaftes Problem demokratischer Legitimität.
Mit Klagen und „Occupy“-Aktionen mischen sich Bürger immer mehr in die Finanzwelt ein. Welche Rolle kann die Zivilgesellschaft bei der Entstehung neuer Regeln spielen oder ist sie den Entwicklungen von Politik und Wirtschaft chancenlos ausgeliefert?
Willke: Nein, es geht hier eben nicht um „Bürger“, sondern um Experten – nur solche klagen vor den Verfassungsgerichten – und um professionelle Bewegungen, NGOs oder Gruppen, die sich einem Fachthema widmen. Damit entstehen gegenüber den hoch professionalisierten Strukturen des Finanzsystems Parallelorganisationen, die entsprechende komplementäre Expertise entwickeln, um Paroli bieten zu können. Protestbewegungen der Zivilgesellschaft teilen sich damit entsprechend den Entwicklungen der Wissensgesellschaft auf in allgemeine Themen und Spezialthemen, und nur spezialisierte und hochgradig kompetente NGOs haben eine Chance, in den entsprechenden Themen ernst genommen zu werden. Tatsächlich beginnt die „Occupy-Bewegung“, sich solche Expertise anzueignen. Zudem hat sich mit der in Brüssel sitzenden „Finance Watch“ eine Organisation der Zivilgesellschaft etabliert, die aus Fachleuten besteht.
Eine der häufigsten Argumentationsketten mündet in der Forderung nach der Rückkehr der Moral in die Finanzwelt…
Willke: Märkte haben mit Moral überhaupt nichts am Hut - und das ist auch gut so. Moral ist eine Kategorie enger Primärgruppen, nicht aber gesellschaftlicher Funktionssysteme. Aber es gibt eine Ethik der Verantwortlichkeit auch des Finanzsystems, weil es ohne eine solche Ethik seine eigenen Existenzbedingungen und operativen Voraussetzungen - vor allem Vertrauen - verspielt.
Da die Rede von gegenseitigem Vertrauen ist: Die Staatengemeinschaft ist nicht einmal in der Lage, Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien zu sanktionieren. Ist es nicht eine Utopie, dass sie ein staatenübergreifendes Gegengewicht zur Finanzindustrie schaffen kann?
Willke: Das sind zwei völlig verschiedene Dinge und Logiken. Gewaltsame Interventionen in souveräne Staaten sind nur durch Beschluss des Sicherheitsrates der UN möglich. Gibt es Vetos, dann ist auch bei innerstaatlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Intervention möglich. Im globalen Finanzsystem dagegen geht es um „soft law“, um koordinierte Regulierung, um transnationale Abstimmung in schwierigen und kontroversen Grundsatzfragen im Rahmen bestehender nationaler Souveränitäten. Der entscheidende Punkt dabei ist, die Sorge um globale Kollektivgüter wie ein funktionierendes Finanzsystem nicht gegen nationale Interessen durchzusetzen, sondern die Einsicht auf vielen Ebenen zu entwickeln, dass nationale Interessen in einer globalisierten Welt nur mit Rücksicht auf globale Kollektivgüter nachhaltig zu verwirklichen sind.
Ist es angesichts der aktuellen Entwicklung und Unbeständigkeit im Finanzsektor überhaupt möglich zu erahnen, wie die Wirtschaftswelt der Zukunft aussehen wird?
Willke: Nein. Es gibt eine ganze Reihe von Dynamiken, die sich gut abschätzen lassen, vor allem zunehmende globale Vernetzung, Ansteckungsgefahr und Interdependenz. Aber gerade das Finanzsystem ist von „Black Swans“ und systemischen Risiken bedroht, die sich prinzipiell nicht genau vorhersagen und in ihren Wirkungen bestimmen lassen.
Grafik: Bertram Rusch