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Der Diplomregisseur Alexander Keil studierte Regie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg sowie von 2010 bis 2012 als Masterstipendiat Communication & Cultural Management an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Neben seinem Studium arbeitete er als freier Regieassistent in Dresden, realisierte für das Kulturfestival seekult mehrere eigene Projekte und unterrichtete das Modul „kreative Performanz". Seit Herbst 2012 arbeitet er an einem Schauspielhaus in Zürich.
Die deutsche Theaterlandschaft ist sehr diversifiziert: In der Spielzeit 2006/2007 verzeichnete der Deutsche Bühnenverein in 122 Städten 143 Theater mit 826 Spielstätten und 290.000 Plätzen. Von den gesamten öffentlichen Kulturausgaben betrug der Anteil für Theater und Musik im Jahr 2007 36,3 Prozent und umfasste damit die größte Ausgabeposition vor Museen, Bibliotheken und anderen Kulturinstistutionen. (Quelle: Destatis)
Der jährliche Finanzbedarf der einzelnen Theater variiert stark nach Größe und rangiert zwischen rund 1,3 Millionen Euro in sehr kleinen Häusern mit einer Sparte und durchschnittlich 26 Millionen Euro in klassischen Dreispartentheatern (Musiktheater, Schauspiel und Tanz). (Quelle: Theateralmanach)
Destatis (2010), Kulturfinanzbericht, Wiesbaden 2012
Steets, B. (2010), Theateralmanach, Spielzeit 2010/2011, Topographie der deutschsprachigen Theaterlandschaft, Pullach 2010
Die im Frühjahr 2012 durchgeführte qualitative Studie von Alexander Keil basiert auf zwei Informationsquellen. Zum einen analysierte er Medienberichte in anerkannten Fachzeitschriften des Theatersektors. Zum anderen führte er offene Interviews mit sechs Theaterrepräsentanten auf Basis eines Interviewleitfadens. Die Befragten begleiten dabei verschiedene Positionen und ermöglichen eine breite Perspektive (Intendanten, ebenso wie ein Geschäftsführer, ein kaufmännischer Leiter sowie ein Dramaturg). Auf Basis eines Themenkanons wurden die Interviews möglichst offen geführt und anschließend in einem Kategoriensystem kodiert, gruppiert und für die weitere Analyse um Redundanzen bereinigt. Zusammen mit Medienberichten wurden 54 Quellen in die Untersuchung einbezogen.
Weiterlesen: Fünf Thesen zum Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Schneider im Rahmen der Ringvorlesung "Theater. Entwickeln. Planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste" des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim
Das deutsche Stadttheatersystem krankt. Ausgaben werden gekürzt, Programme zurückgefahren und ganze Häuser geschlossen. Und das, obwohl die rund 150 Theater in Deutschland eine wichtige kulturelle Säule darstellen. Das oft gezeichnete Bild ist deutlich: Auf der einen Seite stehen die trägen, von öffentlichen Haushalten finanzierten Stadttheater. Auf der anderen Seite existiert die freie Szene, die den „Platzhirsch” Stadttheater zunehmend in Bedrängnis bringt. Da verwundert es nicht, dass auch die Innovationskraft der traditionellen Häuser bemängelt wird. Ist das Stadttheatermodell also überholt und bietet die projektbasierte freie Szene tatsächlich die entscheidenden Vorteile im Kultursektor?
An dieser Problematik setzte der Diplomregisseur und ZU-Student der Kommunikations- und Kulturwissenschaften Alexander Keil an. Mit Experteninterviews und einer unterstützenden Medienanalyse strukturierte er in seiner Masterthesis die verschiedenen Problemfelder der breit gefächerten Theaterlandschaft – und stellte die Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten für die etablierten Häuser.
Theater haben sich der Analyse zufolge neben regionalen Besonderheiten vor allem einem zunehmend diversifizierten Publikum zu stellen: Internationalere Stadtbewohner, demographischer Wandel sowie der Zerfall der Gesellschaft in immer kleinere Gruppierungen (Partikularisierung) erschweren die Positionierung der Theater. Diesem sehr dynamischen Umfeld stehen nun die staatlich finanzierten Institutionen gegenüber, deren Auftreten eher als konservativ und etwas schwermütig wahrgenommen wird. Finanzielle Einschränkungen durch den Staatshaushalt kommen hinzu und wirken weiter erschwerend auf die inhaltlich breit aufgestellten Stadttheater.
Angesichts der Problemfelder wird deutlich: Die in der Wirtschaft gebetsmühlenartig wiederholte „Innovationskraft” stellt auch im Theaterbetrieb einen kritischen Punkt dar, um sich dem wandelnden Umfeld prozessual anpassen zu können. So lautet ein Resumé der Experteninterviews: „Über welche Wege [kann] man die neu entstandenen Untergruppen für das Programm des Stadttheaters gewinnen?”
Eine in der freien Szene angewandte, lose Projektorientierung wird dabei oft als notwendiger Schritt hin zu einer besseren Situation der Theaterhäuser gesehen. Doch auch, wenn die freie Szene als dynamischer und innovationsfreudiger wahrgenommen wird – die Studie identifiziert in diesem Bereich spezifische Probleme von nicht minderer Brisanz. So besäßen Stadttheater etwa den Vorteil, langfristig auf ihr Umfeld wirken und sich wichtige Kommunikationskanäle aufbauen zu können. Die projektorientierte freie Szene dagegen könne auf diese Basis nicht zurückgreifen. Darüber hinaus mangele es ihr an Kontinuität auch in der Organisation: Böten Stadttheater neben sozialer Absicherung auch Entwicklungsmöglichkeiten für Künstler, fänden sich im projektorientierten Festivalgeschäft nur losere Beziehungen mit weit weniger Sicherheit. Der Regisseur Keil konstatiert: „Prekäre Arbeitsverhältnisse“ seien hier der entscheidende Schwachpunkt und könnten nicht durch örtliche Flexibilität oder geringere logistische Aufwendungen aufgewogen werden.
Diese Argumentation wird dabei mit Luc Boltanski und Eve Chiapello soziologisch unterstützt, deren Arbeit zum „Neuen Geist des Kapitalismus” insbesondere kritisch auf die zunehmende Projektorientierung der Gesellschaft zielt. Flexibilität und sofortige Einsatzbereitschaft des Personals haben demnach etwa eine „nomadische Lebensweise” zur Folge, Stabilität und soziale Verwurzelung verringerten sich zunehmend: ein klarer Umriss der freien Theaterlandschaft.
Das von den Freischaffenden als optimales Theatermodell propagierte Projektgeschäft wird auf Basis der Daten als suboptimaler Modus identifiziert. Es kommt für Keil nicht als Vorbild für Stadttheater in Frage. Vielmehr sollten diese auf flexiblere interne Abläufe setzen und damit ihre personalwirtschaftlichen Vorteile für die Entwicklung neuer künstlerischer Konzepte bündeln. So sind sie etwa als Thinktanks der Gesellschaft denkbar, in denen „mit den sinnlichen Mitteln des Theaters Diskurse geführt und darüber ein Gemeinschaftssinn für die hier lebenden Menschen geschaffen” werden kann. Auf jeden Fall sei „es ein Irrglaube, dass man [durch reine Angleichung der Stadttheater an die Modelle der freien Szene] dieselbe innovative Theaterkunst, die im Moment vor allem in Städten wie Berlin, Hamburg und Düsseldorf an den Produktionshäusern produziert und gezeigt wird, mit einem Schlag auf das Publikum ganz Deutschlands verteilen könne.”
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