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Nico Hoffmann studierte an der Zeppelin Universität Kommunikations- und Kulturwissenschaften (CCM) und ging für ein Semester an die QUEST University Canada, wo er auch die Idee zu seiner Bachelorarbeit entwickelte. Für sein Masterstudium zieht es ihn wieder in die Ferne: Seit April 2013 studiert er im Global Studies Programme an der FLACSO Argentina (Buenos Aires), der Chulalongkorn University (Bangkok) und der Albert-Ludwigs-Universität (Freiburg).
Die Theorie Pierre Bourdieus über Kapitalsorten zählt zu einer der bekanntesten innerhalb der Sozialwissenschaften. Dabei thematisiert er unterschiedliche Formen von Ressourcen, die die Gesellschaft und deren Individuen ansammeln bzw. aufbauen und welche einem ständigen Prozess des Austauschs unterliegen. Kapital definiert er konkret als „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ,inkorporierter‘ Form“ (Bourdieu, 1983: 183¹), wobei die letztendliche Gestalt der Kapitalsorten von ihrem Anwendungsbereich abhängt. Bourdieu unterscheidet seinerseits drei Dimensionen der materiellen oder eingeschriebenen Ressourcen: ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital.
¹ Bordieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: KRECKEL, R. (Hrg.) Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Otto Schwartz & Co.
(Text: Nico Hoffmann)
Sie haben Fernfreundschaften in Strong Ties und Weak Ties unterschieden, also Freundschaften mit starker und schwacher Bindung. Sind schwache Bindungen, wenn man sich einmal im Jahr auf Facebook zum Geburtstag gratuliert?
Nico Hoffmann: Das ist der Klassiker, ja. Wobei man selbst das nicht zu negativ sehen sollte. Zwei Teilnehmerinnen meiner Forschungsgruppe haben betont, wie wichtig ihnen Geburtstage sind. Im Rest des Jahres wissen sie oft nicht, was sie mit den Freunden in der Ferne reden sollen. Doch sie haben sie getroffen, eine gute Zeit mit ihnen verbracht und als tolle Menschen empfunden. Der Geburtstag bietet dann einen Grund, das auszudrücken. Weak Ties werden oft auch erhalten, um verschiedene Kapitalformen auszubauen.
Welche Kapitalformen werden durch Weak Ties genutzt?
Hoffmann: In Anlehnung an Bordieu: Soziales und kulturelles Kapital. Kulturelles Kapital, indem Wissen über andere Länder, deren Musik, Politik und Alltagskultur ausgebaut wird. Viele Teilnehmer beschrieben, dass sie nun endlich etwas mit den Nachrichten aus anderen Ländern anfangen können, weil sie jemanden haben, der sie erklärt. Typisch für in Anspruch genommenes soziales Kapital ist Hilfe – zum Beispiel bei Übersetzungen. Gerade die englischen und spanischen Muttersprachler leisten viel Übersetzungs- oder Korrekturarbeit.
Enge und lose Bindungen sind also nicht von der Zeit oder Frequenz abhängig, in der man Kontakt hat?
Hoffmann: Nein, denn wenn man einen Aufsatz hin- und herschickt hat man ja ziemlich oft Kontakt, weiß aber nicht unbedingt wie es dem anderen geht oder fühlt keine emotionale Nähe. Strong Ties hingegen weisen eine hohe Emotionalität auf. Eine Teilnehmerin beschrieb zum Beispiel, dass sie mit jemanden geskypt hat und anschließend Bauchschmerzen des Vermissens fühlte. Hierin findet eine deutlich ausgeprägte Emotionalität und Verbundenheit auch über die Ferne hinweg ihren Ausdruck.
Inwiefern unterscheiden sich Freundschaften vor Ort von Fernfreundschaften?
Hoffmann: Ich vermute, dass gerade Fernfreundschaften mit enger Bindung über längere Zeit gehalten werden als lokale Freundschaften. Wenn Fernfreundschaften einmal eine gewisse Zeit überdauert haben, sind sie langlebig und robust. Fernfreundschaften überbrücken Zeit ähnlich, wie sie sich über die räumliche Distanz erstrecken.
Ergänzen Fernfreundschaften also lokale?
Hoffmann: Ja, viele Teilnehmer haben beschrieben, dass sie gerade in Beziehungsfragen den Rat der Freunde in der Ferne schätzen, da diese oft einen ganz anderen Blick haben und andere Perspektiven eröffnen. Das mag am unterschiedlichen kulturellen Hintergrund liegen, oder daran, dass sie die betreffenden Personen nicht persönlich kennen. Wichtig ist hier das Ergänzen: Fernfreundschaften können lokale Freundschaften ergänzen, nie ersetzen. Eine interessante Metapher brachte eine Teilnehmerin: Für sie sind Freundschaften in der Nähe wie T-Shirts, Fernfreundschaften wie ein Kleid. T-Shirts trägt sie oft, in ihnen fühlt sie sich frei, wohl und gemütlich. Aber auch das Kleid ist ihr wichtig, sie trägt es nicht dauernd, trotzdem möchte sie es nicht missen.
Was hält Fernfreundschaften zusammen?
Hoffmann: Es ist wichtig, am Leben des anderen dran zu bleiben. Eine Teilnehmerin meinte, sie lerne durch Fernbeziehungen mehr nachzufragen, anstatt nur von sich selbst zu erzählen. Während meist alle nur über sich reden wollen, habe sie durch Fernfreundschaften gelernt, dass das Nachfragen nach dem anderen Gespräche und Kontakte im Gang hält. Denn zwar hat man im Auslandssemester oder Sprachkurs viel gemeinsam erlebt, doch kann man darüber nicht ewig reden.
Auch Rituale scheinen hilfreich, zum Beispiel sich immer morgens zu einer bestimmten Uhrzeit zu schreiben. Manchmal mag daraus eine Kette von mehreren Nachrichten entstehen, ein andermal bleibt es beim Wünschen eines guten Tages.
Aber reicht das Austauschen von Informationen auch über einen längeren Zeitraum zum Erhalt der Freundschaft?
Hoffmann: Das ist natürlich herausfordernd. Jemand hat es so beschrieben, dass Skype zwar toll ist, zugleich aber auch merkwürdig, denn es hinterlässt keinerlei sichtbare oder physische Spuren. Man weiß zwar, dass es passiert ist, aber es gibt keine äußeren Anzeichen und hätte genauso gut nur im eigenen Kopf passieren können. Gemeinsame Erlebnisse halten Menschen zusammen und diese weiterhin zu kreieren ist die zentrale Herausforderung bei Fernbeziehungen.
Auf welche Möglichkeiten, auch über Distanz gemeinsame Erlebnisse zu schaffen, sind Sie gestoßen?
Hoffmann: Manche schicken sich Geschenke, andere regelmäßige Videobotschaften. Eine Gruppe von Freunden trifft sich alle paar Tage für ein paar Stunden bei Skype. Dabei macht jeder das, was er auch ohne das Skype Date tun würde. Ab und zu werden ein paar Worte gewechselt, aber es ist keine wirkliche Konversation im Gange. Sie sitzen zusammen, als würden sie nach der Schule nebeneinander Hausaufgaben machen. Ein paar Mal pro Woche schalten sie sich so zusammen und jeder, der nichts anderes zu tun hat, ist dabei.
Gibt es kulturelle Unterschiede in der Haltung zu Fernfreundschaften?
Hoffmann: Gerade wir Deutschen neigen dazu, Freundschaft als sehr exklusive Kategorie zu sehen, die man schützen muss. Wir unterscheiden zwischen Freunden und Bekannten und legen viel Wert auf eine klare Trennung. Wir betonen, dass Facebook-Freunde ja eigentlich gar keine richtigen Freunde sind. In anderen Kulturen taucht die Frage nach der Qualität der Freundschaft nicht so sehr auf und so werden auch Fernfreundschaften pragmatischer behandelt. Man fragt sich nicht so sehr, ob sich das jetzt lohnt, oder ob der andere ein echter Freund ist, wenn man ihn nicht regelmäßig trifft. Man denkt sich: „Das sind wunderbare Leute, mit denen will ich Kontakt halten. Die technischen Mittel ermöglichen es und da ich diese Menschen lieben und schätzen gelernt habe, halte ich auch Kontakt zu ihnen.“ Selbst wenn es aufwändig und schwierig ist.
Welche Frage interessiert Sie im Anschluss an Ihre Arbeit?
Hoffmann: In den Interviews wurden oft die Probleme und das Negative thematisiert, dass es schwierig ist, die Freundschaften aufrecht zu halten und man sich lieber öfter sehen würde. Doch das Schöne und Positive überwiegt ja offenbar gegenüber dem Anstrengenden und Negativen, sonst würden die Freundschaften ja aufgegeben werden. Was diese Schöne und Positive ist und ob es nicht ganz exklusive Qualitäten der Fernfreundschaften gibt, nach denen eine solche Beziehung der Freundschaft vor Ort vorzuziehen wäre, würde ich gerne genauer und differenzierter herausfinden.
Die Ergebnisse der Arbeit wurden im Schweizerischen Archiv für Volkskunde veröffentlicht: Soziale Beziehungen und Distanz. Ein Beitrag zur Ethnographie von Fernbeziehungen. Schweizerisches Archiv für Volkskunde (Vol. 109, Nr. 1, S. 80-116).
Bild: NaustvikPhotography via flickr.com