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Christian Burgdorf ist Absolvent der Kölner Journalistenschule und hat in Köln VWL und Musikwissenschaft studiert. Seit 2009 ist er Akademischer Mitarbeiter am Phoenix-Lehrstuhl für Allgemeine BWL & Mobility Management. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Infrastruktur- und Verkehrspolitik, insbesondere untersucht er die Optimierung des Realisierungsprozesses bei Verkehrsinfrastrukturprojekten.
Nimby ist ein Akronym des englischen Ausdrucks "Not In My Back Yard". Das deutsche Äquivalent ist das Sankt-Florians-Prinzip. Wenn Nimbys ihren Protest rechtfertigen, dann klingt das häufig so: "Natürlich bin ich gegen Atomkraft, aber meinen Seeblick möchte ich mir trotzdem nicht von dem neuen Windrad verschandeln lassen." Die Satiresendung Extra 3 hat dazu einen nicht ganz ernstgemeinten Beitrag produziert.
Der Neologismus Wutbürger wurde maßgeblich durch den Journalisten Dirk Kurbjuweit geprägt. Im Spiegel veröffentlichte er 2010 den Essay Der Wutbürger und charakterisiert seinen Protagonisten darin als "konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung", der früher "gelassen und staatstragend" gewesen, jetzt aber "zutiefst empört über die Politiker" sei. Kurbjuweit bezog sich dabei vor allem auf die zu diesem Zeitpunkt aktuellen Debatten um Thilo Sarrazin und Stuttgart 21. Wutbürger wurde 2010 zum Wort des Jahres gewählt und steht mittlerweile auch im Duden, definiert als "aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierende und demonstrierende Bürger".
Kommunen, die auf eine Open-Data -Strategie setzen, stellen ihre Datenbestände - etwa Haushaltsinformationen oder Bevölkerungsstatistiken - zur freien Nutzung zur Verfügung. Auf Bundesebene gibt es dafür beispielsweise das Portal GovData. In Deutschland setzt sich vor allem die Open Knowledge Foundation für offenes Wissen, offene Daten, Transparenz und Beteiligung ein.
Liquid Democracy beschreibt eine Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie.In der "flüssigen Demokratie" geben Wahlberechtigte mit ihrem Votum an der Wahlurne nicht zugleich die Entscheidungsbefugnis über Sachfragen ab, sondern halten ihre Stimme ständig "im Fluss": Sie entscheiden von Fall zu Fall, wann sie ihre Stimme delegieren und wann sie lieber selbst abstimmen wollen. Die deutsche Piratenpartei nutzt LiquidFeedback, um über das Internet zu innerparteilichen Entscheidungen zu gelangen.
Fundis gegen Realos, die Grabenkämpfe der Grünen sind legendär. Aber gemeinsam mit ihren Wählern ist auch die Partei älter und gemütlicher geworden. Heute zerfleischen sich die Piraten in aller Öffentlichkeit, ihren Parteiflügeln fehlt es aber noch an ähnlich plakativen Namen. Wie wäre es mit Nimbys, Fundis und Neutralos? Doch für den Moment bleibt es bei kryptischen Bezeichnungen wie Kegelclub und Gruppe42. Nimbys, Fundis und Neutralos sind nämlich schon vergeben.
Obwohl die Begriffe nicht unbedingt so klingen, sind sie Teil eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes. Gemeinsam mit zwei Professoren der Zeppelin Universität untersucht Christian Burgdorf den Widerstand gegen große Infrastrukturprojekte wie Stuttgart21. „Für unsere Arbeit haben wir die Bevölkerung dreigeteilt“, beschreibt er das Vorgehen. „Als Nimbys bezeichnen wir Anwohner, die direkt von den geplanten Baumaßnahmen betroffen und deshalb dagegen sind.“ Dagegen sind auch die Fundis – im Unterschied zu den Nimbys aber grundsätzlich und gegen alles. Sie nutzen den konkreten Protest nur als Vehikel für ihre allgemeine Fundamentalopposition. „Unsere dritte Gruppe, die Neutralos, weiß noch nicht so ganz, was sie von dem Projekt halten soll. Das ist meistens die Mehrheit, und dementsprechend wichtig ist es, wohin ihr Stimmungspendel ausschlägt.“
In den letzten Jahren scheint sich das Pendel immer öfter in Richtung Widerstand zu bewegen. Stuttgart21, der Berliner Flughafen, die dritte Startbahn in München – die Liste umstrittener oder blockierter Großprojekte ist lang, ein gleichnamiger Essay des Journalisten Dirk Kurbjuweit machte „Die Wutbürger“ gar zum Wort des Jahres 2010. Aber hält der Eindruck einer zunehmend renitenten Bevölkerung einer wissenschaftlichen Überprüfung stand?
„Die Proteste haben definitiv zugenommen“, bestätigt Burgdorf. „Früher hatten eigentlich nur Atomkraftwerke ein gesellschaftliches Blockadepotential, mit Abstrichen vielleicht noch Flughäfen. Dass eine halbe Stadt gegen einen Bahnhof auf die Straße geht, kann man als Dammbruch bezeichnen.“ In Baden-Württemberg habe der Widerstand gegen ein Infrastrukturprojekt erstmals eine Wahl entscheidend mit beeinflusst, damit sei aus dem Protest ein gesellschaftspolitisches Ereignis geworden.
Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe: „Der steigende Altersdurchschnitt der Bevölkerung ist einer davon“, beginnt Burgdorf die Aufzählung. „Wenn es zehn Jahre dauert, bis ein Großprojekt fertig ist, dann fragen sich viele alte Menschen: Warum sollen wir uns mit dem Baulärm abfinden, wenn wir doch eh nichts mehr davon haben?“ Unabhängig vom Alter sinke außerdem das Vertrauen in Politiker, während das Selbstvertrauen der Bevölkerung zunehme. Immer weniger Menschen seien bereits, Entscheidungen einfach hinzunehmen. Als dritten Grund sieht Burgdorf das Internet: „Das macht es leichter, sich über Projektdetails zu informieren. Außerdem kann man sich sofort mit anderen Gegnern vernetzen und den Widerstand organisieren.“
Den Projektbeteiligten ist dieser „neue Widerstand“ ein Dorn im Auge. Durch die Verzögerung wird der Bau teurer, hinzu kommen Kosten für Schlichtungsverfahren oder Polizeieinsätze. Das schreckt Investoren ab, Politiker fürchten um ihre Wiederwahl und verzichten in der Folge auf Großprojekte. Doch nicht jedes Vorhaben muss so enden wie Stuttgart21. „Menschen protestieren dann besonders heftig, wenn sie das Gefühl haben, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde“, sagt Burgdorf. Dann liegt die Lösung doch auf der Hand: Dank Open Data, Liquid Democracy und ähnlichen digitalen Tools sollte mehr Bürgerbeteiligung eigentlich keine große Hürde sein.
Doch ganz so einfach ist es leider nicht. „Das Internet ist kein Allheilmittel“, dämpft Burgdorf die Erwartungen. Zwar biete es tatsächlich mehr Möglichkeiten, Bürger zu informieren und mit ihnen in einen Dialog zu treten, doch gebe es eine Offline-Generation, die man auf diesem Wege nicht erreichen könne. „In 20 Jahren mag das anders sein, aber noch braucht es die klassischen analogen Wege wie Runde Tische oder Bürgerforen. Das darf nicht zu einem Elitenprojekt der Jungen werden.“
Selbst wer bereit ist, die Bevölkerung mit an den Verhandlungstisch zu setzen, hat noch ein weiteres Problem. „Wenn sie Einfluss nehmen könnten, interessieren sich die Bürger nicht dafür. Aber sobald die Bagger rollen und sie nichts mehr zu sagen haben, wollen sie plötzlich mitentscheiden“, erklärt Burgdorf das sogenannte Partizipationsparadox. Es besagt, dass Engagement und Interesse im Verlauf des Planungsprozesses zunehmen, während die Möglichkeiten der tatsächlichen Mitwirkung kontinuierlich abnehmen.
Klar ist jedoch auch: Wütenden Demonstranten vorzuhalten, dass sie sich auch mal ein bisschen früher hätten entscheiden können, den Baulärm doof zu finden, hilft keinem weiter. Deshalb sei bei großen Infrastrukturprojekten eine gute und frühzeitige Strategie der Deeskalation nötig, sagt Burgdorf. „Besonders ungemütlich wird es, wenn Nimbys, Fundis und Neutralos zu einem geschlossenen Protestblock verschmelzen und dabei die Protestmotive der Fundis dominieren.“ In Stuttgart habe man gesehen, wie aus einem Bahnhof ein Politikum werden könne, das die Gesellschaft spaltet.
Wenn man die Eskalation verhindern wolle, müsse die Vereinigung der drei Protestgruppen vermieden werden. Bürgerbeteiligung könne dabei helfen – aber nur, wenn sie auch mit tatsächlicher Entscheidungsmacht einhergehe. „Partizipation darf nicht zum Feigenblatt werden, Scheinbeteiligung kann den Widerstand sogar noch verstärken“, sagt Burgdorf. „Bürger wollen nicht nur über das Wie, sondern auch über das Ob entscheiden können. Deshalb muss es möglich sein, das Projekt bis zum Beginn der Bauphase per Referendum zu stoppen.“
Das Volk als echter Souverän? Für manche Politiker dürfte das eine ungewohnte Vorstellung sein. Doch der Blick nach Stuttgart zeigt, dass sich große Infrastrukturprojekte kaum noch gegen die Bevölkerung durchsetzen lassen. Und wenn aus den Neutralos keine Fundis werden sollen, werden die Volksvertreter wohl oder übel Verantwortung abgeben und Basisdemokratie zulassen müssen. Vielleicht gibt es dann bald noch eine vierte Gruppe: die Jawollos.
Titelbild: campact (CC BY-NC 2.0)
Text: campact (CC BY-NC 2.0) | NiceBastard | ericvondoemming (CC BY-NC-SA 2.0)