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Prof. Dr. hc. Klaus-Dieter Lehmann, Jahrgang 1940, ist diplomierter Physiker und Mathematiker. Schon früh in seiner Karriere sattelte er um und widmete sich dem Bibliothekswesen. Nach Stationen als Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, als Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main sowie anschließend der vereinigten Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, Frankfurt und Berlin war er von 1998 bis 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Seit 2008 ist er Präsident des Goethe-Instituts.
Lehmann ist Honorarprofessor an der Universität Frankfurt am Main und der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied des Kuratoriums der Bertelsmann-Stiftung sowie Träger der Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde unter anderem mit dem "Ordre des Palmes Académiques", dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse, dem Verdienstorden des Landes Berlin, dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und dem Großoffizierskreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik ausgezeichnet.
In der westlichen Moderne stünden inzwischen alle Lebensbereiche unter dem Begriff des Nützlichen. Selbst Dinge wie Freizeit oder Erziehung würden unter dem Paradigma des Nutzens betrachtet. Alles brauche heutzutage einen Mehrwert. Zum Beispiel der Sport. Er ist nicht mehr einfach nur ein Hobby, sondern dient der Selbstoptimierung. Gerade weil das ökonomische Denken sämtliche Lebensbereiche durchdrungen hat, brauchen wir Raum für Kultur, für klassisches Theater, für Kunst und Literatur, argumentiert Lehmann: „Denn ich glaube, dass unser Zusammenleben in erster Linie eine kulturelle Leistung ist. Jene Faktoren, die erfunden wurden zur Produktion von Waren und zu deren Vertrieb, sind kulturell lediglich dazu tauglich, die Kreativität des Einzelnen einzuengen.“
Lehmann sprich vom Eigenwert physischer Räume, wie sie auch das Goethe-Institut mit seinem kulturellen Angebot bereitstellt. Diese müssten besonders, vor allem in Abgrenzung zu digitalen Netzen gefördert werden, betont Lehmann. Letztere hätten in den vergangenen Jahren eine starke Entwicklung erfahren: Sie seien billiger und in ihrer Reichweite größer als physische Netzwerke. Unkritisch sei das nicht zu sehen: Digitale Netze müssten stärker auf ihre Qualität geprüft und nur für jene Dinge genutzt werden, für die sie auch tauglich seien.
Durch kulturelle Vermittlung in analogen Räumen könne man der allumfassenden Ökonomisierung entgegentreten. Als Beispiel erzählt Lehmann über ein Theater-Projekt: Das Goethe-Institut hatte vor einigen Jahren mehrere Dramaturgen aufgefordert, Theaterstücke zum Thema Mauerfall zu schreiben und diese dann an mehreren Orten aufführen lassen. „Es war interessant, zu beobachten, dass diese Theaterstücke die unterschiedliche Mentalität der Völker, Betroffenheiten und Veränderungsprozesse widergespiegelt haben. Dieses Theater hatte die Chance, dass die Leute nachdenklich nach Hause gehen, weil es ihr Leben widerspiegelte. Es war also nicht die hohe Politik, es war auch kein Pressebericht. Es war letztlich etwas, das reflektierte, wie sie wirklich leben.“
Auch in anderen Projekten habe man festgestellt, wie stark Kunst auf Menschen wirkt. Laut Lehmann ist die Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen ganz simpel: „Die Kultur kann Dinge vollbringen, zu denen die Politik nicht in der Lage ist.“ Nur dürfe sie nicht für Dinge instrumentalisiert werden, die sie nicht ändern kann, oder die sie ändern. Das Goethe-Institut fördert diese Art von Kunst, um physische Räume zu schaffen, in denen Kultur nicht von Politik oder Technik zensiert werden kann.
In einer globalisierten Welt können Einzelkämpfer nicht gewinnen. Heutzutage seien nicht mehr diejenigen Institutionen stark, die autonom seien, sondern jene mit guten Netzwerken. Das Goethe-Institut sei mit seinen 158 Standorten ein Beispiel. Es seien jene Dinge, deren Wert wir nicht konkret bemessen können und die sich jeder Art von Ökonomisierung entziehen, die stärker erforscht werden müssten. Nicht, um jenen Wert letztlich doch abwiegen zu können, sondern damit ihnen mehr Geltung zuteilwerde. Die Digitalisierung ganzer Bibliotheken führe zum Aufbau von Hürden statt zu deren Abbau. Der Grund hierfür seien jedoch nicht die zugrunde liegenden technischen Möglichkeiten, sondern unser Umgang mit Ihnen. Man dürfe nicht aus den Augen verlieren, welchen unmessbaren Wert ein physischer Gegenstand habe.
Im Falle von Bibliotheken sei es die Zugänglichkeit, die nicht verloren gehen dürfe. „Man argumentiert damit, dass eines Tages jeder Internet haben wird, doch noch ist dem nicht so. Und hier liegt der Fehler: Kultur muss Technik formen und nicht anders herum“, schließt Lehmann.
Das würde bedeuten, dass eBook oder Kindle das Buch nicht komplett ersetzen werden. In anderen Bereichen bedeutet es, vielleicht einfach wieder öfter zusammen zu kommen, statt digitale Technologien zur Kommunikation zu nutzen. Denn physischer Umgang bedeutet eine Art von Schutz- und Lebensraum, deren technisches Pendant platzen kann wie eine Seifenblase.
Titelbild: scarygami (CC BY-SA 2.0)