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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
"Für wen und für was wären Sie bereit, sich zu engagieren und notfalls auch Ihr Leben aufs Spiel zu setzen?" fragen die ARD-Rundfunkanstalten in einer großen Umfrage. Denn im Jahr 2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Viele Nationen erinnern daran. "An das Gedenken wollen wir die Frage
nach den Werten knüpfen, die heute für uns zählen und die Nationen verbinden. Für welche Ziele sind wir bereit, uns zu engagieren? Wie weit würden wir gehen, um sie zu verteidigen? Würden wir unser Leben für sie opfern?
Wir würden uns freuen, wenn Sie an unserer grossen Umfrage teilnehmen", heißt es in der Fragestellung. Auch ZU|Daily unterstützt diese Umfrage gerne und lädt unter "Mehr" zu Teilnahme ein.
In seinem Buch „Im Westen nichts Neues“ schildert Erich Maria Remarque, wie sich eine ganze Schulklasse freiwillig zum Kriegsdienst meldet, um für das Vaterland zu kämpfen. Halten Sie eine solche Entwicklung heute noch für möglich?
Prof. Dr. Dirk Baecker: Wenn die soziale Verunsicherung der Bevölkerung Ausmasse annimmt, die nur durch die Emphase nationaler Einheit aufgefangen werden kann, kann sich eine Entwicklung dieser Art durchaus wiederholen.
Eine kurze, aber dennoch schwere Frage: Was haben wir aus zwei Weltkriegen gelernt?
Baecker: Wir haben gelernt, dass Kriege in jeder Hinsicht katastrophale Ereignisse sind, die jede Erwartung kameradschaftlichen Heldentums restlos enttäuschen.
100 Jahre später: Für wen oder was sind Ihrer Meinung nach Menschen heute noch bereit, sich unter Einsatz Ihres Lebens zu engagieren?
Baecker: Diese Frage ist nicht zu beantworten. Die Bereitschaft, sein Leben zu opfern, gibt es nur in Situationen maximaler Bedrängnis. Diese Situationen können wir uns auf unserer friedlichen Seite Europas nicht mehr wirklich vorstellen. Und niemand von uns wünscht sich eine Probe aufs Exempel.
Hat sich dann aber die Bereitschaft, für ein öffentliches Engagement zumindest Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, in den letzten Jahrzehnten verändert?
Baecker: Nein, auch diesen Eindruck habe ich nicht. Denken Sie nur an das unveränderte, wenn nicht sogar wachsende Interesse an ehrenamtlichen Tätigkeiten. Öffentlich engagiert sich, wer dazu den Bedarf, die Gelegenheit und die passenden Umstände erlebt.
Was sagen solche Veränderungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse insbesondere in Deutschland aus?
Baecker: Diese Verhältnisse haben sich nicht wirklich geändert. Natürlich variieren die Reichweite und Beweglichkeit privaten und öffentlichen Engagements, die Erregungspotentiale und die Formen der Mobilisierung von Meinung, Stimmung und Zustimmung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse neigen dazu, so könnte man etwas pathetisch sagen, ihre eigene Unberechenbarkeit sicherzustellen. Auf einen gemeinsamen Nenner kann man sie nicht bringen. Wozu auch?
Gibt es überhaupt einheitliche Werte, die eine Gesellschaft unabhängig von Alter, sozialer Stellung oder Staatszugehörigkeit zusammenhalten, oder sind wir quasi „wertelos"?
Baecker: Der verlässlichste Wert, auf den wir uns alle verlassen, besteht darin, dass die Werte im Plural auftreten und daher jeder Wert mit Blick auf andere Werte abgeschwächt, aufgewertet oder auch nur verglichen werden kann. Wir verlassen uns auf Werte, von denen keiner dogmatisch absolut gesetzt werden kann. Und von diesen Werten haben wir sehr viele, vor allem die drei klassischen, auf die sich bereits die griechische Antike verlassen hat: Bescheidenheit, Tapferkeit und Klugheit.
Sind Begriffe wie Toleranz gegenüber Fremden und Andersdenkenden oder Zivilcourage als Werte ausreichend in den Gedanken der Bürger verankert, um sich entsprechend für andere einzusetzen?
Baecker: Auch das ist eine Frage der Gelegenheit und Umstände. Wenn wir uns moralisch hinreichend beobachtet fühlen und sei es von unserem Gewissen, sind wir tolerant und couragiert. Stört uns etwas und andere fühlen sich auch gestört, kann die Toleranz jedoch auch schnell verloren gehen. Auch der Altruismus muss sich lohnen, und sei es intrinsisch. Und wenn unser Egoismus nicht unangenehm auffällt, leisten wir uns auch diesen. Wichtig ist, daran zu arbeiten, dass unsere Gesellschaft niemanden in die Enge treibt und jeden mit Respekt behandelt.
Titelbild: r2hox / flickr.com
Bilder im Text: Pete Edgeler, erjkprunczyk / jeweils flickr.com