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Dr. rer. pol., MAS. Systemische Beraterin (SG, DFC), Studium von Betriebswirtschaftslehre und Kulturmanagement, Promotion Privatuniversität Witten/Herdecke. Seit Januar 2012 Programmdirektorin für Tailor-made Programme und Dozentin an der ZU|Professional School, und Senior Lecturer am Leadership Excellence Institut Zeppelin|LEIZ, beides an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen u.a. für Audi AG, Daimler AG. Seit über 15 Jahren tätig als Coach und Beraterin u.a. am Zentrum für systemische Forschung und Beratung Heidelberg, für Lufthansa, Merck & Cie. Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Zeppelin Universität, MIT Center for Collective Intelligence" (Sloan School of Management, MA), Private Universität Witten/Herdecke, Universität Zürich. Aufsichtsratstätigkeit in US-start-up. Seit 2003 Reviewerin bei Academy of Management. Zuvor in USA als Global Leadership Consultant für einen globalen Konzern in Roswell (GA) tätig. Gründerin und Projektleiterin eines Schweizer Doktorandennetzwerkes. Vorher nahm sie über lange Jahre verschiedenste Marketing- und Führungsfunktionen bei Johnson & Johnson in der Schweiz wahr. Veröffentlichungen und Vorträge zu Themen wie Global Leadership, Female Leadership, Diversity u.a. für die Robert Bosch Stiftung, DZ-Bank.
Koall, I./Bruchhagen, V. (2005): Zum Umgang mit Unterschieden im Managing Gender & Diversity – eine angewandte Systemperspektive in: Hartmann, Gabriella; Judy, Michaela (Hg.): Unterschiede machen. Managing Gender & Diversity in Organisation und Gesellschaft, Edition Volkshochschule, Wien, 2005, S.17-56
Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt 1987 (Original: Mind an Natur, 1979), 4. A. 1995, Suhrkamp-Tb. Wissenschaft [stw 691], 3-518-28291-3, S. 126f
Fischer, H.R. (2011): Vortrag an der ZU „Global Babel“, im Rahmen des Kurses Advanced Global Leadership oder„der Vielheit die Würde geben“, März 2011
Spencer-Brown, George: Laws of Form - Gesetze der Form. Bohmeier-Verlag, Lübeck 1997
Woolley et al. (2010): Evidence for a Collective Intelligence Factor in the Performance of Human Groups, Science 330, 686 (2010); www.sciencemag.org (Stand 11.12.2014)
Stichweh, R. (2004): Wissensgesellschaft und Wissenschaftssystem. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, Neuchâtel
Marte, A.V. (2009): Auf der Suche nach Global Leadership. Empirische Studien in multinationalen Konzernen. Dissertation Private Universität Witten/Herdecke
Schmid, Stefan & Daniel, Andrea (2007). Die Internationalität der Vorstände und Auf- sichtsräte in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Magritte Zitat: Die rätselhaften Visionen René Magrittes, in: Life, 22.4.1966, aus Sinnbild und Abbild, Zur Funktion des Bildes, Kunstgeschichtliche Studien - Innsbruck Neue Folge Band 1, Universität Innsbruck. http://www.uibk.ac.at/kunstgeschichte/materialpersonal/17.sbild_und_abbild.pdf (Stand 11.12.2014)
Das "Project Implicit" ist eine Non-Profit-Organisation und eine internationale Forschungskooperation zur impliziten Assoziation und sozialen Kognition.
Warum haben Sie das Wort "Unterschiede" ausgewählt und was bedeutet es für Sie?
Dr. Angelica Marte: Na ja, weil ich mich in meinen Forschungsthemen Global Leadership und Diversity immer mit den Unterschieden herumschlagen muss. Klar heißt dann das Diversity-Seminar für ZU-MasterstudentInnen „Vom Umgang mit Unterschieden“. Diversity ist nach einer Definition von Koall (2005) "der Umstand, dass Menschen zugleich immer beides sind: ähnlich und verschieden.“ Aber das Verschiedensein oder der Unterschied muss beobachtet werden, um sozusagen - das muss eigentlich das Wort des Jahres 2014 werden - das Ähnliche erkennen zu können. Was es für mich bedeutet? Denken wäre ohne Unterscheidung nicht möglich. Individuation in der Entwicklung von Menschen wäre ohne Unterscheidung nicht möglich. Von der Einheit zur Vielheit und wieder zur Einheit. Wahrscheinlich sieht jeder unterschiedlich viele Professxe - dieses Wort wäre jetzt ein anderes Thema - in diesem Bild. Wie viele sehen Sie denn?
Und hier entlarven Sie mich als Konstruktivistin, denn das Unterscheiden läuft in der erkenntnistheoretischen Basisannahme nicht ohne Beobachter, also eine beobachterunabhängige Wirklichkeit ist nicht zugänglich. Der Beobachter ist immer Teil des Beobachteten. Eine absolut unabhängige Erkenntnis ist in der Konstruktion der Wirklichkeit nicht möglich. Wir brauchen Kategorien, Rahmensetzungen, Prämissen als erkennendes Subjekt, sonst würden wir verrückt. Wobei insbesondere bei Lernen, Veränderungen, Innovationen und sonstigem Neuen das Ver-rücken eine Bedingung darstellt. Insofern konstruieren wir unsere Wirklichkeit auch dadurch. Oder wir malen sie.
Das hat Magritte perfekt schon 1928 visualisiert. Ein Maler, der einen Maler malt, der eine Frau malt. Also hier ist nicht das Verrückt sein visualisiert, sondern die Beobachtung zweiter Ordnung.
In welchem wissenschaftlichen Kontext haben Sie das Wort zuletzt benutzt? Welches Forschungsergebnis ist im Zusammenhang mit dem Wort "Unterschiede" besonders spannend, neu oder überraschend?
Marte: Ich benutze das Wort sehr oft, denn es ist quasi existentiell für meine Haltung als Wissenschaftlerin und Lehrende. Dieses Unterscheiden vollzieht sich über das Ent-zweien, wie der konstruktivistische Philosoph Hans-Rudi Fischer das so pointiert beschreibt. Spinoza prägte das als "Omnis determinatio est negatio": Jede Bestimmung läuft über Negation. Spencer-Brown (1997) definiert mit seinem Formkalkül einen Begriff der Form, der neben dem Ent-zweien ein Drittes hinzufügt. „Wir erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität auseinander nehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie wieder zusammenfügen. Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und „jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen.“
Heißt, wir unterscheiden beim Beobachten die Unterscheidung, die Grenzziehung zwischen Objekt der Beobachtung und dem Beobachter. Also zwischen Bild und Abgebildeten und der Grenze. Oder zwischen Rahmen und Bild und der Grenze dazwischen. Hans Rudi Fischer verwendet dazu ein perfektes Bild.
Überraschend oder neu war für mich ein Unterschied, der einen signifikanten Unterschied macht im Kontext eines „Collective Intelligence Factors“ in Teams. ForscherInnen u.a. der Carnegie Mellon University und dem MIT haben herausgefunden, dass neben zwei anderen Komponenten durch den Anteil von Frauen im Team der Faktor signifikant erhöht wird. Also ein Unterschied, der signifikant einen Unterschied macht.
Eine spezifische Frage zum Wort: Im heutigen Zeitalter verändern sich auch Unterschiede laufend. Werden sie mehr? Wie sollen wir mit diesen Unterschieden umgehen?
Marte: Meines Erachtens werden die Globalisierungstendenzen anhalten und sich noch verstärken. Durch die Globalisierung konnte Distanz, Stichweh 2004 beschreibt hier globale Relevanzräume, als die Hauptquelle von Komplexität in der Internationalisierung von MNCs (Multinational Corporations) diagnostiziert werden, was für die MNCs eine starke Erhöhung von Unsicherheit und Unsteuerbarkeit bringt. Diese Distanz kreiert kulturelle, ökonomische, rechtliche, psychische, organisatorische, zeitliche, sprachliche Unterschiede. Stichweh umschreibt dies mit der Ferne, die in das Nahe kam und das erzwingt, sozusagen (schon wieder) auf der ganzen Welt nach Tausch- oder Kommunikationspartnern, aber auch nach Informationen, Daten etc. zu suchen. Globalisierung bewirkt, dass man immer gleichzeitig global beobachten muss mit Fragen wie: Wie denken das die anderen? Was planen die anderen? Was hält man für Best Practice wo auf der Welt? Noch weiter gedacht, erzwingen die vielen Unterschiede eine Entscheidung, ob ich zum Beispiel global oder nicht-global beobachte oder beobachtet werden will oder gar beides?
Wir können Global Leadership als die Lösung für das Problem der Distanz als Kreator von Komplexität beobachten, welche unterschiedlichste Unterschiede produziert (Marte 2009). Dies führt zu einer Gleichzeitigkeit in der Bearbeitung von Unterschieden. Die Fähigkeit der MNCs, diese Unterschiede zu bearbeiten und die Fähigkeit der Global Leaders, diese Unterschiede in die MNCs einzuführen, hängt davon ab, wie komplex die MNCs und die Global Leaders „konstruiert“ sind. Sie können selbst herausfinden, wie Sie mit Unterschieden umgehen, wie viele „Bias“ in Ihnen steckt - auf der Forschungsplattform des Harvard Projektes „Project Implicit“.
Starke Unterschiedsreduktionen sind oft dort zu beobachten, wo es um die Erhöhung von Sicherheit, Eindeutigkeit, Vertrauen geht. Wir können dann Schließungstendenzen in Form von Elitisierung verbunden mit einer Netzwerkisierung beobachten (siehe dazu eine Studie von Dax-30 Unternehmen von Schmid/Daniel 2007). Geradezu spürbar macht dies eine Skulptur von Katharina Fritsch „Tischgesellschaft“, 1988.
Globalisierung kann zudem als starker Unterschiedsverstärker hinsichtlich des Unterschiedes zwischen Leadership und Global Leadership beobachtet werden. Global Leadership kann verstanden werden als Differenzmanagement, in welchem bedingt durch die höhere Komplexität und Dynamik unterschiedlichste Unterschiede in die Organisation eingeführt werden und eine permanent mitlaufende Beobachtung und Kommunikaiton gemacht werden muss, wie (im Sinne von beobachten, erkennen, unterscheiden, entscheiden) diese Differenzen bearbeitet werden.
Heißt konkret, eine Beobachtung zweiter Ordnung einzuführen und dafür Kommunikationsräume zu schaffen. Heißt auch, die Eigenkomplexität der Organisation zu erhöhen bzw. auch diejenige der Personen darin. Heißt auch, zu entscheiden, welche und wie viele Unterschiede in einer Organisation beobachtet und wie zugelassen werden, an welche Stellen, wie wird damit system- und personenseitig umgegangen? So könnte man ja auch die ZU-Ermöglichungskultur als ein Differenzmanagement mit Unterschieden verstehen – fernab von ethisch-moralischen Konnotationen.
Zusammenfassend könnte man vereinfacht sagen: Je mehr Unterschiede, desto mehr (Eigen-)Komplexität, desto langfristig erfolgreicher, aber kurzfristig massive Verlangsamung von Entscheidungen, hohe soziale Komplexität, erhöhter Kommunikationsaufwand und Konflikte, Steigerung der Unsicherheit. Und zu all dem braucht es das Denken und die Unterschiede. Dazu nochmal ein René Magritte in der „Die Blankovollmacht“ von 1965 – in Schrift und Bildform:
„Sichtbare Dinge können unsichtbar sein. [...] In der Blankovollmacht verbirgt die
Reiterin die Bäume, und die Bäume verbergen sie. Aber unser Denken umfasst beides, das Sichtbare und das Unsichtbare. Und ich benutze die Malerei, um das Denken sichtbar zu machen.“
Titelbild: Mbeo / flickr.com (CC-BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Skulptur "Tischgesellschaft" von Katharina Fritsch / Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main
Redaktionelle Umsetzung: Maria Tzankow und Alina Zimmermann