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Alexander Ruser vertritt seit Januar 2016 den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie und promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich „Global Institutional Development“ am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Nach Forschungsaufenthalten in Südkorea und Japan wechselte er als Dahrendorf Fellow an die Hertie School of Governance in Berlin. 2013 war Alexander Ruser Visiting Dahrendorf Fellow an der London School of Economics and Political Science, bevor er im Januar 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an den Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften kam.
Im Dezember 2015 wurde die Habilitationsschrift „Science in Society: Implications for the Sociology of Knowledge and a Social Philosophy of Science“ fertiggestellt.
Alexander Ruser ist aktives Mitglied im internationalen Forschungsnetzwerk „A Social Philosophy of Science“ der russischen Akademie der Wissenschaften und Mitinitiator der Forschungsinitiative „Think Tanks in the Knowledge Society“ (Kooperation mit der Deutschen Universität Speyer und der Technischen Universität Chemnitz).
Die Bombe explodiert um 22.19 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt sind die Festzelte auf dem größten Volksfest der Welt, dem Münchner Oktoberfest, noch sehr gut gefüllt. Der Sprengsatz, ein Eigenbau, ist mit Nägeln und Schrauben gefüllt. Als er explodiert, reißt er 13 Menschen in den Tod. Mehr als 200 Personen werden zum Teil schwer verletzt. Schnell wird klar, dass es sich um einen Selbstmordanschlag gehandelt hat. Der 21-jährige Attentäter hatte sich schon als Teenager radikalisiert, war Teil einer Parallelgesellschaft.
Das Attentat ist kein fiktionaler Bestandteil einer Anti-Terror-Übung, sondern Realität. Der Anschlag ereignete sich am 26. September 1980. Der Attentäter, Gundolf Köhler, war überzeugter Rechtsextremist.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um das Sicherheitskonzept für das diesjährige Oktoberfest ist vielleicht ein Blick auf das Oktoberfest von 1980 und vor allem 1981 angebracht. Bemerkenswert ist, dass die Wiesn unmittelbar nach dem Attentat nur für 24 Stunden unterbrochen und im Folgejahr ohne erhöhte Sicherheitsvorkehrungen veranstaltet wurde.
Wie groß ist die Gefahr eines Anschlags beim Oktoberfest?
Dr. Alexander Ruser: Mit Hinweis auf das geglückte Attentat von 1980 könnte man eine „hohe“ Gefahrenstufe vermuten. Immerhin ist es schon einmal einem radikalen Einzeltäter gelungen, eine Bombe auf das Gelände zu schmuggeln. Ich würde aber dennoch, wenn Sie erlauben, für die Antwort einen kleinen „Umweg“ nehmen. Die Frage unterstellt einen direkten Bezug zwischen Terrorgefahr (das heißt die Intensität der Bemühungen von Terroristen einen Anschlag zu verüben) und Terrorabwehr (Geheimdienstliche oder polizeiliche Maßnahmen zur Verhinderung von Anschlägen). Wenn die Terroristen „besser“ sind, ist die Gefahr hoch, sind die Sicherheitsbehörden „effektiv“, ist die Gefahr niedrig. Aus soziologischer Sicht würde ich gerne einen dritten Begriff einführen, den man nach Peter Waldmann „terroristisches Kalkül“ nennen könnte.
Was ist damit gemeint?
Ruser: Terroranschläge haben meistens keinen unmittelbaren strategischen Nutzen. Auch das rechtsextremistisch motivierte Attentat von 1980 diente ja nicht dazu, konkrete Feinde der „eigenen Sache“ zu beseitigen. Auch noch hohe Opferzahlen wie beispielsweise bei den Anschlägen auf das World Trade Center können eine Gesellschaft nicht wirklich schwächen. Anschläge sind daher in erster Linie kommunikative Akte, die ein Gefühl der Angst und Unsicherheit erzeugen sollen. Darüber hinaus sollen Unterstützergruppen mobilisiert und der Gegner zu einer eventuell überzogenen Reaktion gezwungen werden. Allein, dass sich Besucher des Oktoberfests die Frage nach der Sicherheit stellen, ist also gewissermaßen ein Erfolg für Terroristen.
Ist es besser, aufgrund der Terrorgefahr, Großevents wie das Oktoberfest abzusagen?
Ruser: Die Frage zeigt, wie perfide das „terroristische Kalkül“ ist. Es kann aufgehen, auch wenn gar kein Anschlag stattfindet. Das Problem oder das Dilemma ist natürlich, dass die Verantwortung allein auf Seiten der Sicherheitsbehörden liegt.
Wie reagieren Menschen auf die Gefahr? Mit einer „Jetzt erst recht“-Haltung oder eher ängstlich?
Ruser: 1980 sind die Menschen wieder auf die Wiesn gegangen und in den Folgejahren ist das Volksfest sogar gewachsen. Viel hängt also davon ab, wie Gefahrenpotenziale kommuniziert werden. Mit dem Tod des Selbstmordattentäters Gundolf Köhler – so zumindest das damalige Narrativ – war der Anschlag und damit auch die Bedrohung „vorbei“. Dabei war Köhler eben auch kein reiner Einzeltäter, sondern mit Gesinnungsgenossen vernetzt. Trotzdem wurde nicht von einem rechten Terrornetzwerk gesprochen und über mögliche Anschlagsserien spekuliert.
Ist also alles nur „Panikmache“?
Ruser: Sicher nicht. Hier kommt zum dritten Mal das „terroristische Kalkül“ ins Spiel. Das Bedrohungsgefühl, die Ängste und die Interpretationsspielräume sind ja eine direkte Folge der Organisation von terroristischen Gruppen. Selbst, entschuldigen Sie den Ausdruck, „ordentliche“ terroristische Vereinigungen wie die Rote Arme Fraktion haben ja keine Mitgliedsausweise verteilt. Auch wenn man, wie die berühmten Fahndungsplakate der 1970er Jahre belegen, die Identität der Mitglieder des harten Kerns kannte, gab es an den Rändern „Unterstützerkreise“ und „Sympathisanten“. In Zeiten digitaler Kommunikation ist die Zurechnung von Personen und Taten zu Gruppen noch schwieriger. Wird der Anschlag einer einzelnen Person zu einem IS-Anschlag, wenn sich der Täter auf YouTube zum IS bekennt? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, aber wichtig, wenn man zwischen einer „Serie von Anschlägen“ und einer „Anschlagsserie“ unterscheiden will.
Was bedeutet das für die Anschlagsgefahr auf dem diesjährigen Oktoberfest?
Ruser: Wie uns die Erfahrung zeigt, kann ein Anschlag auf das Oktoberfest Erfolg haben. Das ist nun mal Fakt. Ebenso Fakt ist, dass ein solcher Anschlag 1983, 1991, 2002 oder im letzten Jahr hätte stattfinden können. Ich will damit nicht sagen, dass es so etwas wie eine allgemeine Bedrohungslage nicht gibt und sie für die Einschätzung der konkreten Anschlagsgefahr keine Rolle spielt. So wurden während des „Stammheimprozesses“ in und um Stuttgart auch im öffentlichen Raum verschärfte Sicherheitsmaßnahmen getroffen und Kontrollen durchgeführt. Kontrollen, die es heute – eben wegen der veränderten Bedrohungslage – nicht mehr gibt.
Allerdings, und hier möchte ich ein weiteres mal auf das „terroristische Kalkül “ eingehen, gibt es neben der objektiven Bedrohungslage auch ein subjektives Gefühl der Bedrohung. Ich denke hier liegt auch der Unterschied zu den 1980er Jahren. Offenbar war die objektive Bedrohung durch rechtsextremen Terrorismus real und hoch. Trotzdem war das subjektive Empfinden anders, es gab keine grassierende Angst vor extremistischen Netzwerken. Aus der Erfahrung, dass etwas passieren kann und etwas passiert ist, wurde nicht geschlossen, dass wieder etwas passieren wird.
Das ist heute natürlich ganz anders. Ich kann die objektive Bedrohungslage zwar nicht einschätzen, aber dennoch sagen, dass das subjektive Empfinden von Angst und Anspannung geprägt ist.
Ist das die Schuld der Medien, der Politik?
Ruser: In den vergangenen Wochen ist ja viel über die „Konzeption zivile Verteidigung“ und Herrn de Maizières Aufruf zum Anlegen von Notfallrationen gesprochen worden. Ich muss zugeben, für mich war das auch nichts weiter als politisches Kalkül, und ich habe bislang noch keinen Vorrat Dosenravioli in meinen Atombunker geschafft.
Andererseits gehört zum „terroristischen Kalkül“ eben auch, dass grundsätzlich etwas passieren könnte. Was das für die Verantwortung von Medien und Politik bedeutet? Das ist schwierig. Es ist ein bisschen so wie die Fahrt im eigenen Auto. Es gibt die objektive Möglichkeit, einen Verkehrsunfall zu haben. Trotzdem wäre es unverantwortlich, wenn Medien und Politik Pkws als schreckliche Todesfallen darstellen würden. Umgekehrt wäre es aber ebenso unverantwortlich, reale Gefahren zu verschweigen oder kleinzureden. Es ist ein Dilemma.
Das heißt, man trinkt seine Maß auf eigenes Risiko?
Ruser: Ich fürchte ja. Und es kommt noch schlimmer. Das Trinken selbst ist ja nicht ohne Risiko. Obwohl man am Beispiel des Trinkens viel über den Umgang mit „objektiven Bedrohungslagen“ lernen kann. Vielleicht steckt in Henny Youngman´s Einsicht doch eine tiefere Weisheit: „Als ich von den schlimmen Folgen des Trinkens las, gab ich sofort das Lesen auf.“
Titel-Collage:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm