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Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Die Bundestagswahl 2017 hat gezeigt: Das Wahlsystem für den Deutschen Bundestag bedarf dringend einer erneuten Reform. Das im Jahr 2013 zuletzt reformierte Bundestagswahlgesetz gilt als zu kompliziert und intransparent, ist nur noch für Experten verständlich und kann zu unkontrollierten Vergrößerungen des Deutschen Bundestages führen. Bei der Bundestagswahl 2017 ist die Zahl der Abgeordneten von 598 auf 709 angestiegen – eine unnötige Vergrößerung des Parlaments, die durch eine rechtzeitige Reform des Wahlrechts vermeidbar gewesen wäre. Aber wie könnte eine nachhaltige Reform des Wahlsystems aussehen? Welchen Kriterien müsste es genügen und welche Reformoptionen stehen zur Verfügung? Auf diese Fragen gibt die vorliegende Publikation »Reform des Bundestagswahlsystems« Antworten und diskutiert konkrete Vorschläge für eine nachhaltige Wahlsystemreform.
Lassen Sie uns den Vorausblick mit einem Rückblick beginnen: Die Versuche Norbert Lammerts, eine Änderung des Wahlrechts einzuleiten, sind in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert. Sehen Sie für die neue Legislatur überhaupt eine Chance zur Verständigung?
Prof. Dr. Joachim Behnke: Momentan hat das Wahlrecht – wie sonst eigentlich auch immer – sicherlich keine sehr hohe Priorität. Man gewöhnt sich doch immer sehr schnell an alles, also in diesem Fall an den stark vergrößerten Bundestag. Letztlich gibt es hier keine Lösung, ohne auf ein wertvolles Prinzip Verzicht zu leisten. Daher bin ich eher skeptisch, ob man sich wirklich einigen können wird.
Die streng vertraulich tagende „Arbeitsgruppe Wahlrechsreform“ will bis Ostern Klarheit haben, ob es zur Einigung auf eine Obergrenze und auf die Dauer der Legislaturperiode kommen kann. Halten Sie ein Ergebnis für wahrscheinlich?
Behnke: Die Materie ist sehr komplex und ich denke nicht, dass die Abgeordneten sich so schnell werden einigen können. Außerdem ist das natürlich eine Frage, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden muss. Hier geht es um den Kern der Demokratie, nämlich darum, wie sich der Wille des Volkes ausdrückt. Gerade, weil die Wahlen die einzige Möglichkeit hierfür sind und der Volkswille noch dazu hier nur alle vier Jahre überhaupt zur Geltung kommt, muss hier besondere Sorgfalt geübt werden, aber vor allem muss das Volk selbst an diesem Prozess beteiligt sein. Eine öffentliche Diskussion ist das mindeste, was hier stattfinden muss, noch besser wäre eine direkte Beteiligung des Volkes selbst in Form einer sogenannten deliberativen Versammlung, also einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung, die von Experten beraten und dann einen Input für die eigentliche Gesetzgebung geben könnte.
In Ihrer Publikation gehen Sie auf die Möglichkeit der Einführung eines Mehrheitswahlrechtes nicht ein. Wäre das nicht auch eine Lösung, insbesondere im Hinblick darauf, dass kleinere Parteien, die eine Regierungsbildung erschweren können, dann an Bedeutung verlieren würden?
Behnke: Es ist richtig, dass die Mehrheitswahl in der Regel die Regierungsbildung erleichtert. Allerdings gilt dies auch nicht mehr im selben Maße wie früher. Gerade an Großbritannien kann man dies ja gut sehen, wo es innerhalb der vergangenen drei Regierungen zwei Koalitionsregierungen gab, also genau das, was man eigentlich mit der Mehrheitswahl verhindern will. Wichtiger ist für mich aber noch, dass die Mehrheitswahl aus demokratietheoretischen Gründen wohl das schlechteste aller Systeme ist, weil es große Teile der Bevölkerung von der Mitwirkung ausschließt und ihre Stimme nicht zur Geltung kommen lässt. Last but not least ist es müßig darüber zu spekulieren, weil es dafür niemals eine Mehrheit im Parlament geben wird. Auch wenn es erst einmal so scheint, als ob sich das Verhalten der SPD in den vergangenen Wochen mit einem Freudschen Todestrieb ganz gut erklären ließe, so selbstmörderisch kann sie dennoch kaum unterwegs sein, dass sie der Einführung eines Mehrheitswahlrechtes zustimmen würde.
Wie kann man das Wahlrecht transparenter gestalten, ohne einzelnen Parteien „auf die Füße zu treten“?
Behnke: Letztlich kann es nicht darum gehen, ob man einzelnen Parteien „auf die Füße tritt“, sondern darum, ob man ein bestimmtes System rechtfertigen kann. Wenn alle Parteien fair behandelt werden, haben sie keinen legitimen Grund, sich über das Ergebnis zu beschweren und sind moralisch verpflichtet, es zu akzeptieren. Dann ist ihnen auch ein Wahlsystem zumutbar, für das sie vielleicht selbst nicht gestimmt haben. Transparent allerdings wird das neue Wahlgesetz wohl ebenfalls wieder nicht sein, denn Transparenz und Gerechtigkeit stehen leider oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander.
Die Verringerung der Direktmandate würde zu einer Vergrößerung der Wahlkreise führen. Viele Bürger beklagen aber jetzt schon, dass ihr Abgeordneter nicht genug Zeit für den eigenen Wahlkreis aufbringt. Würde eine Vergrößerung der Wahlkreise nicht letztlich der Politikverdrossenheit weiter Vorschub leisten?
Behnke: Ich denke, das wäre nur ein kleineres Übel im Vergleich zu den Problemen, die sonst auftreten würden. Man muss sich klarmachen, dass mit einer Vergrößerung des Bundestages um mehr als ein Sechstel auf 709 Sitze das Ende der Fahnenstange noch keineswegs erreicht ist. Behält man das derzeitige Wahlgesetz bei, kann es durchaus auch zu 800 Sitzen und mehr kommen. Das wäre dann der Fall, wenn die CSU nur noch 35 Prozent der Stimmen erhielte, wovon sie derzeit gar nicht so weit entfernt ist.
Was genau soll man sich unter Ihrem Vorschlag, sogenannte „Zweier-Wahlkreise“ einzuführen, vorstellen?
Behnke: In jedem Wahlkreis, von denen es dann nur noch halb so viele gäbe, würde nicht mehr wie bisher die Person mit den meisten Erststimmen direkt gewählt, sondern die beiden Personen mit der höchsten und der zweithöchsten Stimmenzahl. Damit würde sich die Anzahl der Überhangmandate dramatisch verringern und – da diese die Ursache für die Vergrößerung sind – der Bundestag nicht mehr so aufgebläht sein.
Offenbar besteht bei vielen Parlamentariern gar nicht das Bedürfnis, den Bundestag zu verschlanken. Wie kann man hier von außen einwirken?
Behnke: Ja, das ist natürlich ein psychologisches Problem. Von den Abgeordneten, die jetzt im Parlament sitzen, sitzt jeder siebte aufgrund der Vergrößerung des Bundestages überhaupt nur im Bundestag. Von diesen zu verlangen, für ein Gesetz zu stimmen, das sie selbst mit großer Wahrscheinlichkeit wieder abschaffen würde, ist naturgemäß schwierig. Das ist ein bisschen so, als ob man dafür stimmen sollte, dass es besser gewesen wäre, abgetrieben worden zu sein. Genau aus diesem Grund – eben wegen der persönlichen Betroffenheit der Abgeordneten – ist es daher eine gute Idee, die Entscheidung weitgehend aus dem Parlament herauszunehmen. Also die schon erwähnte Bürgerversammlung eine Empfehlung finden zu lassen und vielleicht auch noch das Votum einer Expertenkommission einzuholen, sodass das Parlament diese Empfehlung im Wesentlichen nur noch umsetzen sollte. Auch bei der Suche nach einer Lösung für das Problem der Altersversorgung der Abgeordneten in Baden-Württemberg hat man ja dieses Verfahren gewählt.
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm