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Gabriel Prokofiev ist der Enkel des berühmten Komponisten Sergej Prokofjew – musikalisch verbindet die beiden Komponisten aber nur das Genre Klassik. Prokofiev ist DJ, Produzent und erntet als Komponist von eigenwilligen Klassikwerken viel Applaus. Dank Abstechern in die Hip Hop- und Electro-Szene treffen in seinen Kompositionen Turntables auf Orchester und elektronische Klänge auf klassische Instrumente.
Wer in Berlin an einem Donnerstagabend von Galerie zu Galerie schlendert, merkt schnell: Die Begeisterung für zeitgenössische Kunst ist ungebrochen. Und auch jenseits der Bundeshauptstadt ziehen Vernissagen und Kunsthappenings jenseits des grau melierten Sammlerklientels ein breites Publikum an – in Friedrichshafen bewies das zuletzt der gut besuchte Kunstfreitag. Ein Interesse für das, was sich Hochkultur schimpft, ist ganz offenbar auch bei vielen jungen Menschen vorhanden, und die bildende Kunst weiß dies durch ansprechende Veranstaltungen in lockerer Atmosphäre zu katalysieren und Werke so zu kontextualisieren, dass sie auch für Laien verständlich werden.
Bei Klassischer Musik dagegen sieht das Ganze anders aus. Zeitgenössische Komponisten basteln über Monate hinweg an einem neuen Stück, zu deren einzigen Aufführung dann maximal acht Zuschauer beziehungsweise Zuhörer auftauchen. Aufgenommen und für die Nachwelt verfügbar gemacht wird das Ganze in der Regel nicht – angesichts der geringen Beachtung rentiert sich der Aufwand einfach nicht. Gabriel Prokofiev kennt dieses Problem. Im Laufe seines Musikstudiums entmutigten ihn die halbleeren Konzertsäle und das mangelnde Interesse an seiner Arbeit so sehr, dass er sich zunächst von der Klassik abwandte. Nach seinem Abschluss produzierte er Elektro-, Dance- und Hip Hop-Musik – und vermisste dann doch schnell die kreative Freiheit, die ihm die Klassik bot. Populärkulturelle Genres, erklärt der Londoner Komponist, sind musikalisch betrachtet wahnsinnig konservativ: Jedes hat seine eigene Formel, eine bestimmte Abfolge an Beats und Drops, an der man sich zu orientieren hat. Die Klassik dagegen erlaubt Soundexperimente, musikalische Fahrten ins Ungewisse statt durchorchestrierter Pauschalreisen.
In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer werden und die Songs im Radio und auf Spotify auf algorithmischen Formeln beruhen, brauchen wir die Klassik mehr denn je, um das Hören nicht zu verlernen, bemerkt Prokofiev. Deshalb ist er zu diesem Genre zurückgekehrt – und deshalb hat er es sich zur Aufgabe gemacht, zeitgenössische klassische Musik ähnlich populär zu machen wie Bildende Kunst. Doch wie genau soll das funktionieren soll?
Zunächst einmal müssen aber die biografischen Formalien aus dem Weg geräumt werden. Denn ja, er ist der Enkel des russischen Komponisten Sergej Prokofjew, ein Verwandter, dessen Name gar nicht anders kann als einem vorauszueilen. Aber er ist eben auch DJ, Verfasser eines Conciertos für Orchester und Turntables sowie Gründer des Labels „Nonclassical“, mit dem er Veranstaltungen, wie die „Nonclassical Club Nights“, organisiert. Im Rahmen jener Clubnächte werden typische Partylocations mit zeitgenössischer Klassik beschallt – beim Bodenseefestival sollen sie unter anderem im Friedrichshafener Casino und im legendären Ravensburger Techno-Club Douala stattfinden.
In früheren Jahrhunderten, erklärt der Londoner, waren Klassische Musik und Feierkultur sich viel näher – man denke an die Kammermusik, man denke an den Komponisten Béla Bartók, der sich von ungarischen Volkstänzen zu seinen Werken inspirieren ließ. Prokofievs Volksmusik heißt Techno, heißt Grime, heißt Drum'n'Bass – Urban Folk nennt er diese Genres, die im Melting Pot London aus der US-amerikanischen House-Musik, aus Reggae-Einflüssen sowie aus einer düsteren, schmutzigen Herangehensweise an Rap-Musik (die die verhangene und regnerische Stimmung Londons in sich trägt) entstanden sind. Gerade Techno ist für Prokofiev nicht bloß stilistisch inspirierend: Der bahnbrechende Erfolg des Genres, der in den 1990er-Jahren begann und bis heute andauert, zeigt, dass Musik entgegen gängiger Annahmen keine Lyrics, keine traditionellen Harmonien und keinen Chorus braucht, um junge Menschen zu fesseln. Zeitgenössische Klassik kann das auch, da ist sich Prokofiev sicher. Aber: „Wir leben heute in einer viel informelleren Gesellschaft als vor 200 Jahren – und die Musik hat es versäumt, aufzuholen.“
Prokofiev will das nachholen. Deshalb dauern die Stücke bei den „Nonclassical Club Nights“ auch nicht länger als 20 Minuten, deshalb gibt es ähnlich wie bei Museumsführungen kurze mündliche Einführungen in die einzelnen Stücke und deshalb arbeiten auch Techno-, Hip Hop-, und Ambient-Künstler an den Alben mit, die bei „Nonclassical“ veröffentlicht werden. Neu ist diese Form der Hybridmusik nicht – ihre Ursprünge gehen zurück auf den im 13. Jahrhundert emporkommenden Cantus firmus. Der DJ und Komponist Prokofiev spricht gern über die Geschichte der Klassik – aber auch davon, wie glücklich sich Komponisten heute schätzen können, auf ein riesiges historisches Repertoire an Inspirationen zurückgreifen zu können und trotzdem frei von den Dogmen des 20. Jahrhunderts zu sein. Wenn man es denn schafft, sich erfolgreich von diesen zu lösen. Zum Beispiel von der übermäßigen Intellektualisierung des Hörerlebnisses, von der Überzeugung, dass man Klassische Musik vornehmlich verstehen und nicht bloß spüren muss. Gerade, weil vor allem Klassikfans der älteren Generation dieser Überzeugung noch anhängen, braucht es Nachwuchshörer. Und die wollen dort abgeholt werden, wo sie sich zu Hause fühlen.
Natürlich bedeutet das nicht, den Konzertsaal ganz abzuschaffen, betont Prokofiev. Manche Stücke sind so zart, langsam und leise, dass sie im Club oder in einer Galerie gar nicht bestehen können. Aber darüber hinaus gilt es, für junge Komponisten neue Aufführmöglichkeiten zu schaffen – damit ihre Stücke nach der ersten Aufführung nicht in der Versenkung verschwinden, sondern sich mit jeder Aufführung weiterentwickeln und entfalten können. Denn wenn man diese Zielgruppe erst einmal gewonnen hat – etwa, indem man typischerweise von Mehrspurrekordern erzeugte Geräusche mit Cellos nachspielt, um zu zeigen, dass diese Instrumente noch dreckiger und düsterer klingen können als jeder Synthesizer, oder indem man zum 1. Mai eine musikalische Themennacht zu Arbeiterrechten veranstaltet, die mit einem Marsch der Musiker durch die Straßen eingeläutet wird – dann, das steht für Prokofiev fest, wird sie erkennen, dass Klassik obskurer und unangepasster und damit auch cooler sein kann als jede Underground-Indie-Band, die man schon kannte, bevor sie groß wurde.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Katerina Nasonkina / Zeppelin Universität
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm