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Prof. Dr. Michael Scharkow hat den Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Kommunikation an der Zeppelin Universität seit 2017 inne. Vorher war er unter anderem an der Universität Hohenheim, der Universität Münster oder der Universität der Künste Berlin. Er setzt sich vor allem mit (digitaler) Mediennutzung und Methoden auseinander
Wann gilt jemand als computerspielsüchtig und wer ist davon häufiger betroffen?
Prof. Dr. Michael Scharkow: Es gibt bislang kein verbindliches Diagnoseinstrument für Computerspielsucht. Im neuen ICD-11 der WHO ist von drei Kriterien die Rede: (1) fehlende Kontrolle über das eigene Spielverhalten, (2) die Dominanz vom Spielen gegenüber anderen Aufgaben des täglichen Lebens und (3) die Unfähigkeit, mit dem Spielen aufzuhören, auch wenn man negative Konsequenzen wahrnimmt. Sind diese Kriterien über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten erfüllt, spricht die WHO von Computerspielsucht.
Die American Psychological Association hat einen etwas konkreteren Kriterienkatalog mit neun Indikatoren entwickelt, hier kommt zum Beispiel noch die Toleranzentwicklung (man muss immer mehr spielen für denselben Effekt) oder Entzugserscheinungen (Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten etc.) hinzu. Insgesamt orientieren sich die Kriterien einerseits an stoffgebundenen Süchten wie Alkohol- oder Nikotinsucht, andererseits auch an der schon länger etablierten Glücksspielsucht.
Betroffen sind häufiger junge Menschen, allein schon, weil diese insgesamt mehr Computerspiele nutzen, ebenso Männer häufiger als Frauen. Online-Rollenspieler wiederum sind häufiger problematischere Nutzer als etwa Sportspieler. Wie viele Personen überhaupt betroffen sind, ist seit vielen Jahren in der Wissenschaft stark umstritten. Manche bevölkerungsrepräsentativen Studien kommen auf Zahlen im niedrigen Prozent- oder gar Promillebereich, wenn man die oben genannten Kriterien streng auslegt, andere finden bis zu 10 oder 20 Prozent „Süchtige“, wobei hier häufig mit nicht-repräsentativen Studien und laxen Kriterien gearbeitet wird.
Wie verhält sich Computerspielsucht zu anderen Süchten? Lässt sie sich überhaupt mit anderen Süchten vergleichen?
Scharkow: Computerspielsucht unterscheidet sich von fast allen anderen Süchten zunächst dadurch, dass es keine physiologische Wirkung gibt wie etwa bei Drogen. Sie ähnelt diesen vor allem in der Symptomatik, nicht aber in den Ursachen. Dies ist eine der Hauptproblematiken der Computerspielsucht: Was ist es überhaupt, dass die Sucht auslöst? Sicher nicht die Exposition zu beweglichen Bildschirminhalten, das Klicken mit der Maus oder dem Gamepad.
Was kann eine Computerspielsucht auslösen, wie entwickelt sie sich und wozu führt sie?
Scharkow: Die Vertreter der Computerspielsuchtdiagnose sehen vor allem die Anreizsysteme der Spiele (Wettbewerb, Belohnungen) als ursächlich neben den individuellen Dispositionen der Nutzerinnen und Nutzer an. Die Spielehersteller binden ihre Kunden durch immer neue Level, neue Spielgegenstände und Statussymbole, die man sich nur durch erhöhten Zeit- oder Geldeinsatz verdienen kann. Dies motiviert zu einer intensiven Nutzung, die manchmal (keinesfalls immer) zur Vernachlässigung anderer Alltagsaufgaben – Schule, Job, Familie – führen kann. Dies, und darauf weisen Kritiker der ICD-11-Diagnose zu Recht hin, gibt es jedoch auch in vielen anderen Lebensbereichen, wenn intensiv ausgeübte Hobbies mit anderen Dingen kollidieren.
Wie gelingt für Betroffene die Rückkehr in die analoge Welt?
Scharkow: Die Frage ist falsch gestellt, weil die meisten Menschen heute nicht zwischen digitaler und analoger Welt unterscheiden. Für die meisten Spieler ist Computerspielen ein ganz regulärer Bestandteil ihres Lebens – die meisten Schüler spielen zum Beispiel mit ihren Freunden aus der Schule, nicht mit irgendwelchen virtuellen Bekanntschaften. Insofern muss niemand in die analoge Welt zurückkehren, nicht zuletzt, weil man so ganz ohne digitale Medien kaum gesellschaftlich teilhaben kann – vielmehr geht es darum, das Suchtverhalten unter Kontrolle zu bekommen, ohne gleich alle digitalen Geräte entsorgen zu müssen.
In unseren Studien haben wir bei vielen problematischen Computerspielern zudem festgestellt, dass es oft spezifische Lebensphasen sind, in denen intensiv gespielt wird, das problematische Verhalten aber oft nachlässt, wenn man zum Beispiel einen geregelten Job oder familiäre Verantwortung hat.
Was macht den Reiz von Online-Spielen wie Fortnite: Battle Royale, League of Legends und Co. aus?
Scharkow: Die Reize sind vielfältig. Viele Spieler streben nach Wettkampf und Selbstverbesserung, manche sind einfach offen für die narrativen Elemente von Rollenspielen, und für viele sind Online-Spiele einfach soziale Medien, wo man Freunde trifft, Gleichgesinnte kennenlernt und sich unterhalten kann. Gerade das Soziale erzeugt natürlich auch Druck, etwa, wenn man von seinem Team oder seiner Gilde zu einem Quest eingeladen wird – mit festem Termin, der gegebenenfalls mit anderen Alltagsaufgaben kollidiert.
Wie bewerten Sie es, dass der sportliche Wettkampf zwischen Menschen mit Hilfe von Computerspielen, der sogenannte E-Sport, immer populärer wird und sich inzwischen zu einem hochbezahlten Profisport entwickelt hat? Immerhin könnten sich dadurch viele Gamer angespornt fühlen und noch mehr Zeit vor dem Computer verbringen.
Scharkow: Die Zeit, die man vor dem Computer verbringt, ist an sich nicht das Problem. Natürlich muss man viel trainieren, wenn man als E-Sportler erfolgreich sein will. Das gilt im Übrigen für jeden Sport, und für viele andere Dinge von Musizieren bis Forschen und Lehren. E-Sport ist zurzeit im Gegensatz zu Fußball oder Klavierspielen vielleicht gesellschaftlich nicht so geachtet, aber das macht ihn nicht gefährlich. Die meisten E-Sportler sind hochgradig sozial und zielorientiert, und die wenigsten erfüllen das Klischee des isolierten Ballerspielers.
Halten Sie es für richtig, dass die WHO Computerspielsucht als Krankheit anerkannt hat?
Scharkow: Nein, ich denke die Entscheidung ist vorschnell. Ich stimme einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu, die feststellen, dass die empirische Evidenz nicht belastbar ist, und zwar in vielerlei Hinsicht: Uns fehlen zuverlässige Messinstrumente, umfangreiche Längsschnittstudien zu Ursachen und Wirkungen, die neurowissenschaftlichen Befunde sind nicht sehr aussagekräftig. Zudem ist unklar, warum ausgerechnet Computerspiele nun ausgewählt wurden, aber andere problematische Online-Verhaltensweisen – von Internet-Shopping bis zu problematischer Social Media-Nutzung – nicht.
Die Gefahr, dass durch eine Aufnahme der Diagnose im ICD-11 zukünftig viele gesunde Menschen pathologisiert werden können, ist nicht von der Hand zu weisen. Gerade in China und Korea, die mutmaßlich hinter diesem Schritt stehen, werden dadurch unter Umständen potenziell schwerwiegende Maßnahmen legitimiert. Andererseits haben vielleicht die Optimisten recht, dass eine Aufnahme in den ICD-11 nun endlich die Fördertöpfe für gute Studien zu diesem Thema öffnet, und andererseits den Betroffenen auch klinisch Hilfe angeboten werden kann.
Was muss Ihrer Meinung nach die Politik tun, um eine weitere Verbreitung der Computerspielsucht einzudämmen?
Scharkow: Zunächst würde ich der Politik und uns als Wissenschaftlern raten, die vorhandene Evidenz zu prüfen, ob das überhaupt der Fall ist. In den Studien, an denen ich mitgewirkt habe, ist problematisches Spielverhalten ein absolutes Randphänomen. Bislang habe ich keine Belege gesehen, dass sich Computerspielsucht überhaupt verbreitet, jedenfalls über das erwartbare Maß hinaus, wenn man berücksichtigt, dass schlicht immer mehr Menschen Computerspiele spielen.
Muss man als Experte auf diesem Gebiet auch ab und zu Computerspiele zocken?
Scharkow: Nein. Im Bereich der Suchtforschung ist es eigentlich selbstverständlich, dass man keine Primärerfahrung als Wissenschaftler braucht, um gute Forschung zu machen. Zudem ist leider in der Gaming-Forschung historisch viel „Me-Search“ statt Research gemacht worden, was nicht immer zum Anspruch von Objektivität passt. Allerdings schadet es sicher nicht, wenigstens ab und zu auf den Markt der Computerspiele zu schauen, damit man versteht, was da überhaupt gespielt wird. Dafür reicht aber auch ein Let's Play Video in der Mittagspause.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm