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Simon Koschut hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, an der Universität Potsdam und an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft und Nordamerikastudien studiert. Bevor er an der Universität Potsdam über „Die Grenzen der Zusammenarbeit. Sicherheit und transatlantische Identität nach dem Ende des Ost-West-Konflikts“ promovierte, arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programm USA/Transatlantische Beziehungen an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Nach seiner Promotion vertrat er eine Juniorprofessur für die Außen- und Sicherheitspolitik Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der Freien Universität Berlin. Im Anschluss erhielt Simon Koschut ein einjähriges Forschungsstipendium der Fritz Thyssen Stiftung am Weatherhead Center for International Affairs an der Harvard University und war mehrere Jahre als Akademischer Rat an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Für seine Habilitationsschrift an der Universität Potsdam erhielt Simon Koschut den Ernst-Otto-Czempiel-Preis für die beste postdoktorale Monografie aus der Friedens- und Konfliktforschung.
Zuletzt übernahm Simon Koschut die Vertretungsprofessur für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Am Lehrstuhl für Internationale Sicherheitspolitik an der ZU wird sich Simon Koschut in Lehre und Forschung mit dem Verständnis und der Bewältigung globaler Sicherheitsbedrohungen befassen.
In der Ukraine herrscht Krieg, seit Russland das Land völkerrechtswidrig attackiert hat. Doch die russische Offensive stockt, der Krieg wird brutaler. Wie schätzen Sie die Lage zurzeit ein?
Prof. Dr. Simon Koschut: Tatsächlich sind wir in eine neue Phase des Krieges eingetreten. Wladimir Putin hat bemerkt, dass seine bisherige Strategie nicht aufgegangen ist. Es läuft schlicht nicht so, wie er sich das eigentlich vorgestellt hat – und wie er das wohl seinen Unterstützern versprochen hat. Die Erfolge waren aus russischer Sicht bisher gering, der Krieg droht sich zu verschleppen. Putin kämpft deshalb jetzt gegen die Zeit, er sieht sich jetzt schon unter enormem Druck: einerseits wegen der europäischen Sanktionen, andererseits wegen des Widerstands der Ukrainer. Er muss in den nächsten Tagen militärische Erfolge vorweisen, sonst muss er befürchten, dass sich unter den Oligarchen und in der Bevölkerung massiver Unmut regt.
Wie wird Russland sein Vorgehen jetzt verändern?
Koschut: Für die Ukraine ist das eine schlechte Nachricht: Es bedeutet, dass die russische Armee noch brutaler, noch skrupelloser vorgehen wird. Und sie werden sich wohl nicht mehr nur auf militärische Ziele fokussieren, sondern vermutlich bald auch schon im großen Stil zivile Ziele ins Visier nehmen. Und das ist eine militärtaktische Neuerung.
Können Sie uns – trotz des komplexen Konflikts – in wenigen Sätzen erklären, wie es so weit kommen konnte?
Koschut: Die NATO hat es in drei Jahrzehnten nicht geschafft, das russische Misstrauen ihr gegenüber in Vertrauen umzuwandeln – und Russland hat nicht akzeptieren können, dass sich die osteuropäischen Staaten aus freien Stücken der NATO angeschlossen haben. Sicher hat der Westen seinen Teil zum Konflikt beigetragen. Die militärische Eskalation des Konflikts geht jedoch ganz eindeutig von Russland aus.
Wie schätzen Sie ein schnelles Ende des Krieges ein – entweder durch einen russischen Sieg oder durch Friedensverhandlungen?
Koschut: Es gibt verschiedene Szenarien – und die sind alle ziemlich düster. Es steht die Frage im Raum, ob Putin einen Schritt weitergeht und auch NATO-Territorium angreifen könnte. Das halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für eher unwahrscheinlich – aber längst nicht für ausgeschlossen. Den Spielraum für substanzielle Friedensverhandlungen sehe ich derzeit dagegen eher nicht. Es ist sehr bezeichnend, dass die russischen Angriffe fortgesetzt werden, während mit der Ukraine verhandelt wird. Das ist eigentlich ein Unding. Normalerweise sind bei Verhandlungen Feuerpausen angesagt. Diese Tatsache zeigt, dass der Verhandlungswille auf russischer Seite nicht sehr stark ausgeprägt ist.
Im Moment stehen die Zeichen eher auf Eskalation: Wladimir Putin hat seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt. Wie wahrscheinlich ist der Einsatz von Nuklearwaffen in diesem Konflikt?
Koschut: Zumindest die NATO hält diesen drastischen Schritt längst nicht für ausgeschlossen. Darum hat man auch die ukrainische Anfrage für eine militärische Intervention oder die Einrichtung einer Flugverbotszone höflich, aber bestimmt abgelehnt. Die NATO will auf keinen Fall den Vorwand für weitere russische Eskalationsschritte liefern.
Auch der Westen liefert Waffen. Wie könnte man jetzt stattdessen auf eine Deeskalation hinwirken?
Koschut: Ich finde es richtig und wichtig, dass die westliche Staatengemeinschaft – zum Beispiel der französische Präsident Emmanuel Macron – den Dialog mit Russland trotz allem aufrechtzuerhalten versucht. Es geht neben der militärischen Abschreckung darum, eine diplomatische Brücke für Putin zu bauen. Allerdings muss dieser auch bereit sein, darüber zu gehen – und das sehe ich im Moment einfach nicht.
Wie könnte es zu einem Friedensabkommen kommen? Der Westen kann doch nicht nachgeben – das würde Putin das Signal senden, er habe gewonnen.
Koschut: Das Perfide an der russischen Verhandlungsstrategie mit dem Westen ist ja, dass Moskau auf Maximalforderungen beharrt und faktisch eine Rückkehr zum Status quo der 1990er-Jahre fordert, wohl wissend, dass der Westen dem niemals zustimmen wird. Die Frage ist: Was soll die NATO Russland denn konkret anbieten? Sollen die baltischen Staaten aus der NATO herausgeworfen werden? Das wird nicht passieren und Putin weiß das auch.
Droht uns jetzt also ein neuer Kalter Krieg über Jahre und Jahrzehnte hinweg?
Koschut: Ich fürchte, dass wir vor einer langjährigen Auseinandersetzung mit Russland stehen. Europa wird sich wieder in politische Einflusssphären aufteilen.
Welche Rolle können internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen einnehmen, um den Konflikt zu befrieden?
Koschut: Die Vereinten Nationen sind in diesem Konflikt praktisch handlungsunfähig, da Russland ein Vetorecht im Sicherheitsrat hat. Es besteht die Gefahr, dass – wie im Kalten Krieg – die Vereinten Nationen aufgrund der Pattsituation der Vetomächte marginalisiert werden könnten. Dies wäre ein enormer Rückschritt für die internationale Politik.
Auf welche politischen Auswirkungen müssen wir uns in Deutschland einstellen?
Koschut: Deutschland ist in einer schwierigen Position. Wenn es zu einem Angriff auf NATO-Territorium käme, müsste sich Deutschland militärisch beteiligen. Sollte sich Putin mit der Ukraine zufriedengeben, dann haben wir einen neuen Status quo in Europa – mit einer klaren Trennlinie. Dann wird auch wieder in politischen Einflusssphären gedacht und gehandelt werden. Zwar nicht exakt so wie im Kalten Krieg, aber vergleichbar. Wir werden eine Teilung in Europa erleben zwischen dem russischen und dem westlichen Einflussbereich. Territoriale Verteidigung wird dann wieder ein Thema, auch in Deutschland.
Gibt es etwas, das wir ganz persönlich tun können, um Menschen zu unterstützen?
Koschut: Hoffnung und moralische Unterstützung geben. Die Ukraine verteidigt zurzeit unsere europäischen Werte und sie muss wissen, dass sie dabei nicht allein ist.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm