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Nigeria ist ein Land, das unter anderem von zahlreichen ethnischen, wirtschaftlichen, religiösen und terroristischen Konflikten geprägt ist. In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit Vertriebenen als Opfer von Gewaltkonflikten und untersuchen deren kulturelle Praxis (Lieder, Tänze und Performances) als künstlerische Form der kollektiven Traumabewältigung in der Daudu-Gemeinschaft in Nigeria. Können Sie uns sagen, warum Sie in künstlerischen Ansätzen ein besonderes Potenzial für den sozialen Zusammenhalt sehen?
Dr. Shadrach Teryila Ukuma: Nigeria hat in der Tat ein plurales politisches und gesellschaftliches System. Dieses entsteht durch Heterogenität und vereint vielfältige Interessen. Die Herausforderungen, die Sie in der Frage beschrieben haben, stehen mit der Größe des Landes und dessen vielfältigen Ethnien im Zusammenhang. Unsere kulturellen Unterschiede sind ausgeprägt und lassen Konflikte ebenso entstehen wie Bemühungen um den sozialen Zusammenhalt. Für dieses Bestreben ist unser wichtigster Slogan „Unity in Diversity“. Derartige Bemühungen gab es in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten bereits vor meiner Forschung – ich habe die gewaltsamen Konflikte zwischen Bauern und Hirten untersucht, die natürlich immer noch andauern.
Ich glaube, dass das Wesen einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einer ganzen ethnischen Gruppe in Subsahara-Afrika im Allgemeinen darin besteht, zusammenzukommen. Durch das Zusammenkommen wird die kollektive Identität eines Volkes gestärkt, die Seele der Gruppe geweckt und ihre Bindungen werden vertieft. Die Menschen zeigen durch das bloße Zusammentreffen kollektive Stärke, auch ohne jegliche Gewaltanwendung. Außerdem finden künstlerische Medien im Zusammenkommen eine Plattform für Ausdruck und Bedeutung. Sie bringen das gemeinschaftliche Wesen und die Bestrebungen eines Volkes zum Ausdruck, üben Kritik an sozialen Phänomenen und setzen diese sogar neu in Szene.
Hier liegt meines Erachtens das Potenzial künstlerischer Ansätze für den sozialen Zusammenhalt. Künstlerische Ansätze unterstreichen unsere Ideale als Gruppe, sie erinnern die Mitglieder der Gruppe an ihr Wesen, ihre Bestrebungen und ihr Scheitern. Sie stärken die Identität ebenso wie sie eine Gruppe oder ein soziales Phänomen vor sich selbst (reflexiv) oder vor Außenstehenden (reflektiv) darstellen und dadurch ein vertiefendes Verständnis ermöglichen.
Könnten Sie uns ein kurzes Beispiel für eine Konflikttransformation durch gemeinschaftsgeleitete künstlerische Ansätze aus Ihrer eigenen Forschung nennen?
Ukuma: Meiner Meinung nach hatten künstlerische Ansätze, die Konflikte transformieren, in der allgemeinen Konflikttransformation nie einen hohen Stellenwert. Aus diesem Grund ist das Thema „Creative Peacebuilding“ noch nicht Teil des Diskurses. Staatliche Akteure konzentrieren sich hauptsächlich auf die üblichen Ansätze, Frieden durchzusetzen – wie zum Beispiel die alternative Streitbeilegung oder die Rechtsprechung. Nur wenige sowohl nationale als auch internationale zivilgesellschaftliche Organisationen in Nigeria haben mit externen kunstbasierten Ansätzen (vor allem visuelle Kunst) für Kinder experimentiert. Allerdings stehen solche Versuche vor der Herausforderung, dass sie nicht von unten nach oben und nicht von der Gemeinschaft geleitet werden.
Was ich in meiner Studie anders gemacht habe, war, einen gemeinschaftsgeleiteten künstlerischen Ansatz in einer Gemeinschaft von Binnenvertriebenen zu entwickeln. Dieser kontextspezifische Bottom-up-Ansatz wurde auf Basis der Annahme entwickelt, dass die Studienteilnehmer:innen das, was sie bereits kennen, nicht so schnell wieder vergessen würden. Darauf aufbauend griffen wir auf Lieder aus dem Gemeinschaftsrepertoire der geflüchteten Menschen zurück. Sie bearbeiteten die Lieder und gestalteten die Texte so um, dass sie ihre aktuelle Situation zum Ausdruck brachten. Sie erzählten damit die Geschichte ihrer Vertreibung, ihre Notlage als Binnenvertriebene in Flüchtlingscamps, ihre Bedürfnisse und Ängste, ihre Hoffnungen auf eine Rückkehr zur Normalität usw. Zu diesen Liedern machten die vertriebenen Menschen Musik, tanzten und fügten performative Ausdrucksweisen hinzu.
Mit dieser Erfahrung erzeugten die Binnenvertriebenen eine beträchtliche Energie und vertieften untereinander das, was der Kulturanthropologe Victor Turner als „existential communitas“ beschreibt. Die Lieder, Tänze und Performances schufen eine Atmosphäre der Hoffnung, eine kathartische Erfahrung und eine Vision von der neuen Realität, die sie sich wünschten. Einer der Songs ging so:
Alôgô rumun zwa wase ga
Torkula Fulani rumun zwa wase ga
Ior mban zua zwa a vese m kar ayem oo
Akôr a hia kpa a hia ka uma wase ga!
Die Alogo akzeptieren unseren Stamm nicht
Torkula die Fulani akzeptieren unseren Stamm nicht
Diese Leute haben sich gegen uns verschworen, ich bin auf der Flucht
Wenn meine Yamsetzlinge verbrannt werden, dann lass sie brennen, sie sind nicht unser Leben!
In diesem Lied wird die Entschlossenheit deutlich, weiterzuleben, auch wenn das, was einen Bauern ausmacht, die Ernte, zerstört wird. Dabei werden sowohl Empörung ausgedrückt als auch eine Schilderung dessen, was die Konfliktsituation verursacht hat und wie die aktuelle Situation des Sängers ist.
Mit Liedern wie dem obigen können die Binnenvertriebenen ihre Frustration und ihren Unmut loswerden. Ein solches Ventil ist notwendig, um mit den hochkochenden Emotionen umzugehen. Die Gesangs- und Tanzveranstaltungen bieten den Menschen eine Plattform, mit der sie sich Gehör verschaffen können. Sie fühlen sich in der Tat besser, wenn sie ihre Erfahrungen und Gefühle mitteilen können. Dies spricht die psychologische Ebene der Konflikttransformation an. Die Akteur:innen können reflektieren, wie sie über Probleme denken und Werte, Beziehungen, Emotionen, Verhalten sowie Persönlichkeiten miteinbeziehen. Im Daudu-Kontext sind die persönlichen und emotionalen Aspekte für die psychologische Auseinandersetzung interessant, da sie eine Neuausrichtung des Denkens bekräftigen, damit sich der Geist auf Initiativen der substanziellen und prozessualen Transformation vorbereiten kann.
Ich betrachte den communitybasierten Ansatz der Selbsthilfe der Binnenvertriebenen, ihr Trauma durch kulturelle Darbietungen zu mildern, als einen positiven Mechanismus, der sich langfristig auf die mögliche Lösung des Konflikts in der Zukunft auswirken wird.
Der Titel des Sammelbandes „Performing Sustainability in West Africa“ bezieht sich auf die prozessuale Dimension der Nachhaltigkeit sowie die Einbettung in soziale Praktiken. Was sind die spezifischen Dimensionen der Nachhaltigkeit im nigerianischen Kontext, basierend auf Ihren eigenen Forschungserfahrungen?
Ukuma: Eine der zentralen Aussagen meiner Forschung ist, dass menschliches Verhalten kulturell eingebettet ist. Im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Bauern und Hirten sind beispielsweise sowohl ihr Lebensstil als auch ihre Aktivitäten zur Sicherung des Lebensunterhalts von ihren kulturellen Unterschieden geprägt. Man könnte also sagen, dass die freie Weidehaltung von Rindern, die den Lebensstil der Hirten ausmacht, der ökologischen Nachhaltigkeit schadet. Dennoch würden dieselben Hirten entgegnen, dass man genauso gut die Nachhaltigkeit ihrer Kultur bedrohen würde, da diese Praxis der entscheidende Quotient ihres kulturellen Lebensstils ist. Dies ist die Art von paradoxem Rätsel, welches die soziale Praxis in Nigeria kennzeichnet. Und solche Beispiele gibt es reichlich.
Nichtsdestotrotz weiß ich, dass die spezifischen Dimensionen der Nachhaltigkeit im nigerianischen Kontext zum Großteil eher substanziell als prozessual sind. Obwohl die verfahrenstechnische Dimension erwünscht ist und mit den kommunalen Normen und Praktiken übereinstimmt, ist die Regierung der Hauptantrieb für die Nachhaltigkeitsagenda in Nigeria und wird weitgehend von den Bretton-Woods-Institutionen beeinflusst, so wie auch in anderen Ländern in Afrika und darüber hinaus. Aufgrund dieser Situation wird meistens ein Top-Bottom-Ansatz verfolgt, bei dem es hauptsächlich um globale Konzepte zur wirtschaftlichen Versöhnung und um ökologische sowie soziale Erfordernisse geht. Dabei wird das lokale und ortsbezogene Zusammenspiel solcher Konzepte vernachlässigt und man hört häufig, wie ein hochrangiger Regierungsbeamter, der von einem „deutsch-afrikanischen Gipfel“ zurückkehrt, von der „wissensbasierten Wirtschaft“ als der neuen Richtung spricht, obwohl es in den bestehenden politischen Rahmenbedingungen weder eine grundlegende Infrastruktur noch einen Raum für solche Exotismen gibt.
Auf jeden Fall scheint das Leben auf dem Land, das von der Politik und der Präsenz der Regierung kaum betroffen ist, auf die verfahrenstechnische Dimension konzentriert zu sein. Das zeigt sich in ihrem lokalen Wissen über ihre Umwelt und wie sie mit ihr umgehen. Die Einheimischen wissen, wann man den Fischfang nicht betreibt, um Überfischung zu vermeiden; sie wissen, dass man ein trächtiges Reh oder andere Wildtiere nicht tötet, damit die Arten nicht aussterben; die Einheimischen praktizieren Wanderfeldbau, damit sich der Boden wieder regenerieren kann und so weiter. Dieses Wissen könnte von unten nach oben genutzt und in eine funktionierende öffentliche Politik integriert werden, sodass die praktische Umsetzung einfacher ist.
Können Sie uns einen kurzen Einblick in die Realität der ethnografischen Feldforschung in Konfliktsituationen geben? Wie positionierten Sie sich als Forscher innerhalb der Gemeinschaft und welchen Herausforderungen standen Sie gegenüber?
Ukuma: Meine ethnografische Felderfahrung wurde aus der emischen Perspektive durchgeführt. Dabei ist es hilfreich zu erwähnen, dass ich einen kulturellen Kontext untersucht habe, der auch mein eigener ist, weshalb ich davon ausgehe, dass sich meine Felderfahrungen deutlich von denen anderer unterscheiden würden. Das soll allerdings nicht heißen, dass meine Erfahrung eine allzu einfache Angelegenheit war.
Ich begann meine Interaktionen mit den Binnenvertriebenen im Jahr 2016, noch bevor ich 2017 mein Promotionsstudium begann. Als ich mit der Datenerhebung anfing, war ich also bereits gut in ihre Gemeinschaft eingetaucht, das Vertrauen war groß und ihre Lebensumstände waren mir gut bekannt. Daher war es einfach, die Themen zu benennen, die für meine Forschung interessant waren; ebenso wie die Menschen verstanden, dass wir gemeinsam an einem Mechanismus arbeiteten, der ihnen half, ihr Trauma gemeinsam zu bewältigen.
In Anbetracht ihrer traumatischen Erfahrungen war es verständlich, dass manche Tage einfach schwierig waren und der Austausch nicht zustande kam. So wartete man einfach und versuchte es an einem anderen Tag. Ich habe nicht zugelassen, dass der Zeitdruck meines Studiums meine Beziehung und Interaktion mit dem Feld beeinträchtigt. Der Mechanismus der Traumabewältigung war für mich etwas Persönliches. So konzentrierte ich mich darauf, wie hilfreich unsere Begegnungen mit kulturellen Darbietungen waren und wie sie am besten dazu beitragen konnten, eine maximale Wirkung zu erreichen.
Nicht zuletzt wird derzeit auf internationaler Ebene zwischen Deutschland und Nigeria unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit ein Konflikt um die Besitzverhältnisse der Benin-Bronzen im Hinblick auf das koloniale Erbe ausgetragen. Die Rückgabe und Restitution von Deutschland an Nigeria im Dezember 2022 stellt einen symbolischen Schritt der Dekolonisierung auf der Ebene der Kulturdiplomatie dar. Wie sehen Sie als Wissenschaftler in Nigeria diese Entwicklung im Kontext des kulturellen Eigentums? Welche Konflikte sind in Nigeria sichtbar?
Ukuma: Nun, die Rückgabe von Raubkunst ist in der Regel ein interessantes Thema. Es wurde etwas gestohlen, und es ist klar, dass eine Partei das Eigentum an ihrem Besitz verloren hat. Daher ist es richtig, das Gestohlene zurückzugeben, wenn man möchte mit einer Entschuldigung. Dieser Eigentumskonflikt existiert auf internationaler Ebene, was die diplomatischen Prozesse und den damit verbundenen Papierkram betrifft. Zu Hause in Nigeria gibt es keinerlei Unklarheiten darüber, wem die zurückgegebenen Artefakte gehören. Es gibt keinen Interessenkonflikt, der so offensichtlich ist.
Es stimmt, dass die nigerianische Regierung die Rückgabe angestrebt und erreicht hat, und das ist es, was Regierungen für ihr Volk tun. Die Regierung wird natürlich die Modalitäten für den Schutz und die Vermittlung dieser kulturellen und spirituellen Gegenstände festlegen, aber letztlich gehören sie dem Volk von Benin. Die Frage sollte also nicht aus einem zweigeteilten Prisma heraus betrachtet werden, in dem eine bestimmte Partei den Besitz an sich reißt. Sehen Sie es doch einmal so: Einige dieser Gegenstände sind religiöse Artefakte mit magisch-spiritueller Kraft. Was wird die Regierung dann mit ihnen tun? Wird die Regierung religiöse Aktivitäten um sie herum einrichten? Aber die Menschen in Benin wissen genau, wie sie die Artefakte einsetzen können.
Ich zum Beispiel stamme nicht aus Benin und würde mich fragen, warum eine Regierung, die auch mich vertritt, darauf besteht, Eigentum an etwas zu beanspruchen, das einem bestimmten kulturellen Hintergrund angehört. Ich würde nicht wollen, dass die nigerianische Regierung das Eigentum an meinem Tiv-Kulturerbe, wie dem Kwagh-Hir, der von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde, an sich reißt. Ich freue mich für das Volk von Benin, dass die Rückgabe erfolgt ist; ich bin sicher, dass diese Entwicklung einige Aspekte des kulturellen Traumas ansprechen wird. Ich glaube, dass der Oba von Benin die Rolle der Regierung bei der Rückgabe dieser sehr wichtigen Gegenstände des kulturellen Erbes und der Essenz des Volkes anerkennt.
Dr. Shadrach Teryila Ukuma ist Dozent für Theater- und Kulturwissenschaften an der Benue State University, Nigeria. Momentan betreut er als nigerianischer Koordinator das Projekt „Advanced Training in Co-Creating Avenues for Culture and Sustainable Development“, das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert und von der Juniorprofessur für Kultur- & Medienpolitik an der Zeppelin Universität ausgerichtet wird.
Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten der teilnehmenden Wissenschaftler:innen sind Open Access im von Meike Lettau, Christopher Yusufu Mtaku und Eric Debrah Otchere herausgegebenen Sammelband „Performing Sustainability in West Africa – Cultural Practices and Policies for Sustainable Development“ veröffentlicht.
Übersetzung des Interviews: Miriam Knobe