ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professorin Dr. Maren Lehmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit dem Schwerpunkt auf Organisationstheorie an der Zeppelin Universität. Professorin Dr. Maren Lehmann studierte Design an der Hochschule für Kunst und Design in Halle, später Erziehungswissenschaften und der Soziologie an den Universitäten Halle/Wittenberg und Bielefeld. Nach ihrer Promotion und Habilitation in Soziologie arbeitete sie in Forschung und Lehre an den Universitäten Halle/Wittenberg, Leipzig, der Bauhaus-Universität Weimar, der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Duisburg-Essen.
Im Rahmen des Zeppelin Projekts entwickeln Studierende der Zeppelin Universität in interdisziplinärer Gruppenarbeit eine eigenständige Forschungsprojektidee zu einem selbst gewählten gesellschaftlichen Phänomen. Unter Anleitung von Projektcoaches wird sie in Kleingruppen umgesetzt. Das Thema des diesjährigen Projektes lautet Krisen und Katastrophen, im vergangenen Turnus wurde das Phänomen der Globalisierung bearbeitet.
Hört man den Begriff „Krisen", assoziiert man schnell auch „Katastrophen". Doch die Soziologin Lehmann erklärt, wo der Unterschied liegt: „Krisen sind Entscheidungssituationen; sie sind Varianten der Welt, in der sie vorkommen, und sie sind deshalb auch keine Ausnahmen. In Krisen wird deutlich, dass die Welt zwar geordnet ist, aber dass diese Ordnung nicht selbstverständlich ist: Sie könnte auch anderes sein. In einer solchen Lage müssen Entscheidungen fallen, die stets eine hergebrachte mit einer herzustellenden Ordnung verknüpfen müssen und daher immer unter einer spezifischen (An-)Spannung stehen.
Katastrophen sind weniger Zusammenbrüche dieser Welten als vielmehr Einbrüche dessen, was diese Welten normalerweise ausschließen. Das kann die Natur sein, die dann als Sturm oder Flut oder Feuer über die Welt kommt; es kann aber auch das Irrationale oder Irrsinnige sein. Es sind keineswegs Einschlüsse, so als würde durch die Katastrophe das Unmögliche möglich. Sie bleiben unbegreiflich und unmöglich – aber sie kommen doch vor und deswegen wird ihr Eintreten mit Vokabeln wie ,plötzlich und unerwartet' beschrieben."
Wenn von einer „Krise“ die Rede ist, muss man inzwischen nachfragen, von welcher: Neben individuellen Lebens- und Sinnkrisen stecken das Parteiensystem, die Zeitungsverlage und die Musikbranche in existenziellen Krisen. Auf die Finanzkrise folgte die Währungskrise des Euro; wir kämpfen gegen eine Energiekrise und gleichzeitig gegen die Gefahren der Atomkraft. Davor, dazwischen und danach erschüttern EHEC-Warnungen, Lebensmittelskandale und Feinstaubalarme unsere gut isolierten, mit Krediten finanzierten Eigenbauheime. Nicht weniger als versechsfacht hat sich laut einer Studie der Soziologin Jenny Preunkert die Verwendung des Wortes „Krise“ seit 1960 in wissenschaftlichen Artikeln. Für Stephan A. Jansen, den Präsidenten und Lehrstuhlinhaber für strategische Organisation und Führung an der Zeppelin Universität (ZU), ist es „die größte Krise unserer Zeit: Die Krise des Warnwerts der Vokabel Krise selbst.“ Und obwohl der Begriff der Krise durch seine inflationäre Verwendung an Bedeutung zu verlieren scheint, bleibt ihr Auftreten mit seinen Ursachen und Konsequenzen ein gesellschaftliches Phänomen im Zentrum der Beobachtung und Analyse von tatsächlichen und gefühlten Experten.
Mit jeder Krise taucht auch eine Horde derer auf, die sie als Medienphänomen deklarieren oder aber den Medien zumindest vorwerfen, das Thema aufzubauschen. Endgültig bestätigt sahen sich die Kritiker im November 2011, als nach wochenlanger panischer Berichterstattung ganze Lastwagenladungen des Impfstoffs gegen die Schweinegrippe ungenutzt verbrannt werden mussten. Die ZU-Soziologieprofessorin Dr. Maren Lehmann warnt allerdings vor allzu einfachen Antworten: „Mit der Anfälligkeit für Krisen steigt auch die Krisensensibilität. Man kann seit Reformation und Dreißigjährigem Krieg beobachten, dass die Massenmedien diese Krisensensibilität trainieren, weil sie Krisen nicht nur als Notlagen beschreiben, sondern auch die den Krisen zugrundeliegenden Entscheidungssituationen forcieren.“ Eine Problematisierung von Krisen, betont die Expertin, werde vor allem durch ihr verstärktes Auftreten provoziert. „Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto variantenreicher sind auch die Medien dieser Gesellschaft, aber desto variantenreicher sind eben auch die Krisen dieser Gesellschaft“, so Lehmann. Lehmann ist eine derjenigen, die im Rahmen eines einjährigen Forschungsjahres – dem sogenannten „Zeppelin Projekt“ – seit Januar 2012 studentische Arbeitsgruppen zu der brisanten Thematik "Krisen und Katastrophen" betreut.
Wirkt Komplexität als Krisenkatalysator? 2009 erklärte der Philosoph Paul Virilio in seinem Essay „Der eigentliche Unfall“, mit der Erfindung des Flugzeugs habe der Mensch überhaupt erst dessen Absturz erfunden, ohne Atomkraft gebe es auch die Gefahr der Kernschmelze nicht und erst die Existenz von Schiffen ermögliche deren Untergang. Und bereits 23 Jahre zuvor – kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl – formulierte der Soziologe Ulrich Beck in seinem wohl bekanntesten Werk „Die Risikogesellschaft“ die These, die gesellschaftliche Produktion von Reichtum gehe systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken.
Mit anhaltendem technologischen Fortschritt, Kapitalismus und Globalisierung hat die Menschheit die Produktion von Risiken somit nahezu industrialisiert. Und von der Existenz von Risiken ist es – nicht nur buchstäblich – nicht mehr weit bis zum Entstehen von Krisen: „Krisenanfälligkeit und Krisensensibilität sind Folgeprobleme von Komplexität“, sagt auch Lehmann.
Die Krise könnte so als Normalzustand einer komplexen Gesellschaft betrachtet werden. Was sich zunächst wie eine apokalyptische Vision aus einem Hollywoodmachwerk anhört, sieht Lehmann als Chance: „Krisen führen der Welt, in der sie vorkommen, deren Entscheidbarkeit, deren Änderbarkeit und damit deren Zerbrechlichkeit vor. In Krisen wird deutlich, dass die Welt zwar geordnet ist, aber dass diese Ordnung nicht selbstverständlich ist: Sie könnte auch anders sein.“ Die Erschütterung der Welt durch Krisen, so die Soziologin, ist deshalb auch keine unerwartete Unerträglichkeit, sondern vielmehr ein notwendiges Orientierungselement für eine sich stetig weiterentwickelnde Gesellschaft. „Krisen sind nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil sie es erlauben, Identitäten zu korrigieren“, sagt Lehmann: „Man braucht Entscheidungssituationen, um mit komplexen Welten zurechtkommen zu können, und also braucht man Krisen.“
Bild: Dieses Foto wurde von Vertretern der Jusos Schweiz am 1. Februar 2009 in Davos Dorf, Kanton Graubünden, Schweiz anlässlich des World Economic Forum (WEF) aufgenommen. (Flickr)