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Der 1985 geborene Nürnberger Christian Bauer ist Diplom-Volkswirt und akademischer Mitarbeiter am Phoenix-Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre & Mobility Management an der Zeppelin Universität. Seine Forschungsinteressen liegen auf Wirtschafts-, Verkehrs- und Wettbewerbspolitik. Bauer arbeitet und lehrt seit August 2010 am Bodensee und gibt dort neben Volks- und Betriebswirtschaftslehre auch den Kurs Politische und ökonomische Aspekte der Regulierung.
Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) soll den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln und die Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten. Eine Übersicht über ihre Arbeit bietet die Seite des Deutschen Bundestages.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gibt den Gesamtwert von Waren und Dienstleistungen an, die innerhalb eines Jahres im Inland hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Das BIP ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum und dient als Messgröße für das Wirtschaftswachstum und internationale Vergleiche und ist vor allem ein Produktionsmaß.
Das BIP und die Teilgrößen aus denen es errechnet wird können zu aktuellen Preisen des Berichtsjahres (nominal) oder aus Gründen der Vergleichbarkeit zu Preisen eines Basisjahres (real) dargestellt werden.
Gerade in Deutschland ist das Bruttoinlandsprodukt zur Wohlstandsmessung weit verbreitet. Dass es auch anders geht zeigen Kennzahlen wie der Human Development Index oder Happy Planet Index. Der "Human Development Index" ist eine Messzahl für den Entwicklungsstand eines Landes und setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Lebenserwartung, Ausbildung und Kaufkraft. Dadurch lässt er allerdings die sozialen Disparitäten und Einkommensunterschiede weitgehend außer Acht. Eine Unterscheidung zwischen Städten und ländlichen Räumen fehlt ebenfalls. Ein Bericht, aus dem die aktuellen Werte hervorgehen, wird jährlich von den Vereinten Nationen veröffentlicht.
Der Happy Planet Index ist ein weiterer Gegenentwurf und berücksichtigt keine monetären Größen, sondern Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und Ressourcenverbrauch in Form eines „ökologischen Fußabdrucks." Wie effizient Ressourcen verwertet werden, wird allerdings nicht berücksichtigt. Die Idee, über einen Ökologie-Indikator den Gedanken der Nachhaltigkeit einzubringen, ist zwar sehr reizvoll, aber aufgrund der fehlenden Berücksichtigung der Produktionseffizienz gibt der „Happy Planet Index" ein verzerrtes Bild vom Wohlstand eines Landes ab.
Aufgabe der Kommission ist die Erarbeitung von Vorschlägen für eine neue Messgröße anstelle des BIPs bis zum Ende der Legislaturperiode. Die Herausforderung ist es, einen Indikator zu finden, der Wohlstand und Lebensqualität ausreichend berücksichtigt. Doch die Zeit tickt und ein neuer Indikator für den Wohlstand in der Bundesrepublik rückt nur langsam näher.
Auch wenn das Ende der Legislaturperiode naht, beruhigt Christian Bauer, Diplom-Volkswirt und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Mobility Management: „Die Arbeit der eingesetzten Enquete-Kommission war von vornherein auf einen längeren Zeitraum angesetzt. Mittlerweile sind eigentlich alle Beteiligten gewillt, noch vor dem Ende dieser Legislaturperiode zu einem konkreten Ergebnis zu kommen.“ Erste Vorschläge und Ideen für einen neuen Wohlstandsindikator mit deutlich mehr Aussagekraft seien bereits durchgesickert, so Bauer. Dabei bieten sich vor allem drei Dimensionen an, erklärt er: „Wohlstand könnte künftig in materieller, sozialer und ökologischer Dimension gemessen werden. Unterindikatoren wären beispielsweise die Vermögensverteilung im materiellen Bereich, Lebenserwartung im sozialen Sektor und Schadstoffemission als ökologische Größe.“ Konkrete Vorschläge liegen also bereits auf dem Tisch. „Fraglich ist, ob diese umgesetzt werden können und vor allem sollten“, urteilt Bauer.
Denn gerade die Realisierung ist mit großen Problemen verbunden, schließlich lässt sich fast keine gemeinsame Definition von Wohlstand finden. Verdienst, Bildung, Freizeit, Kinder – so lauten gängige Antworten auf die Frage nach Wohlstand, die je nach Lebenslage wechseln. Doch der häufige Wandel sei nicht das entscheidende Problem bei der Arbeit der Kommission, so Bauer. Schließlich gäbe es trotz ständiger Veränderung viele funktionierende Kennzahlen: „Denken wir etwa an die Messung der Inflation mit Hilfe eines Warenkorbs“, erklärt Bauer. „Gerade die Konsumgewohnheiten und vor allem die Konsummöglichkeiten können sich inzwischen sehr schnell ändern, was allerdings mit entsprechenden regelmäßigen Anpassungen des Warenkorbes abgebildet wird.“ Eine handwerkliche Anpassung sei also auch für das Wohlfahrtsmaß möglich, erläutert Bauer. Er führt stattdessen eine andere Kritik ins Feld: „Dass eine ständige Anpassung den Aufwand wert ist, bezweifle ich doch sehr. Meine Hauptkritikpunkt ist, Wohlstand unbedingt in nur einer einzigen Kennzahl abbilden zu wollen.“
Nichtstaatliche Organisationen und andere Länder schaffen diesem Problem Abhilfe. Ob Human Development oder Happy Planet Index – Konzepte, um den Wohlstand zu messen, bieten sie zu Hauf an. Wie diese funktionieren und warum auch sie nicht ohne Streitereien auskommen, erklärt Bauer am Beispiel des Human Development Index: „Der HDI berücksichtigt mehr Faktoren als nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, wie etwa das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung bei der Geburt und das Bildungsniveau“, erläutert Bauer die Grundlagen. Aus den einzelnen Teilen wird am Ende eine Gesamtgröße errechnet. „Rein subjektiv haben wir also ein umfassenderes Bild als beim Bruttoinlandsprodukt“, sagt Bauer, auch wenn an diesem Konzept deutliche Kritik laut wird. „Die Gewichtung der Indikatoren wird angezweifelt und die Gefahr der Willkür ist sehr hoch, sagen die Einen, wichtige Punkte wie das Gesundheitswesen oder auch Zukunftsperspektiven für Erwerbslose fehlen, sagen die Anderen“, beschreibt Bauer die Diskussion in der Wissenschaft. Er stimmt daher für eine Betrachtung einzelner Indikatoren. Wenn sich ein Faktor verändert, dann gerät schließlich das gesamte Gefüge in Bewegung, erklärt er: „Bei einer Einzelbetrachtung der Indikatoren können die Aussagen einfach sehr viel genauer getroffen werden.“
Doch auch hierbei muss mit Fingerspitzengefühl gearbeitet werden, mahnt er und selbst scheinbar einfache Indikatoren wie Geburtenrate oder die Höhe der Renten müssen mit Bedacht gewählt werden: „Einerseits ist eine hohe Geburtenrate für eine Volkswirtschaft positiv, da Sozialsysteme nur dann funktionieren, wenn ausreichend viele Beitragszahler nachkommen. Andererseits muss man sehen, dass gerade hochentwickelte und wirtschaftlich starke Länder eine besonders niedrige Geburtenrate aufweisen,“ fasst Bauer die Debatte zusammen. Die Geburtenrate in Afrika ist etwa 3,5 mal höher als in Europa. Dabei weist alleine Deutschland ein etwa fast dreimal so hohes BIP auf als der gesamte afrikanische Kontinent. „Die Geburtenrate ist als Indikator für ökonomischen Wohlstand also ungeeignet“, schließt Bauer.
Ebenso verhielte es sich mit der Höhe der Renten und Sozialleistungen. „Natürlich geht es den Empfängern von Transferleistungen besser, wenn die ausgezahlten Beträge hoch sind. Dennoch können diese auch nur deshalb hoch sein, weil das Preisniveau in dem Land hoch ist“, beschreibt er das Grundproblem. Wenn also die Leistungen niedriger sind, das Preisniveau aber noch tiefer liegt, geht es dem Empfänger besser. „Alleine das zeigt die Problematik der Vergleichbarkeit dieser Werte.“
Gerade weil es so schwer ist, Länder zu vergleichen, finden Laien und Experten einen gemeinsamen Wert besonders spannend. Den richtigen Schnittpunkt zwischen Ländern in Afrika, den Vereinigten Staaten, Europa und China zu finden, scheint jedoch aussichtslos. Bauer geht hier sogar noch einen Schritt weiter: „Dass Deutschland nun in einem zweijährigen Prozess ein eigenes Wohlfahrtsmaß entwickelt, zeigt ja schon die wahren Bestrebungen: Man hat überhaupt kein politisches Interesse an einem international etablierten Wohlfahrtsmaß.“
Der Politik gehe es mit ihrer Diskussion um etwas anderes, so Bauer: „Man möchte ein Wohlfahrtsmaß entwickeln, einzig und alleine deshalb, weil es gut zu vermarkten ist. Die zusätzliche wissenschaftliche Erkenntnis ist letztlich gleich Null, da die Werte für die Einzelindikatoren in vielen Fällen bereits vorliegen.“ Bei dem eigenen Wohlfahrtsmaß dieselben Indikatoren und vor allem dieselben Gewichtungen dieser Indikatoren anzuwenden, wolle die Politik gar nicht. „Vielmehr möchte man doch die Möglichkeit haben, das eigene Wohlfahrtsmaß durch entsprechend höhere Gewichtung jener Indikatoren, in denen ein Land besonders stark ist, in die Höhe zu treiben“, beschreibt Bauer die aktuellen Bestrebungen.
Politiker kritisierten bereits die Komplexität und Vielzahl der Indikatoren und urteilten, eine öffentlichkeitswirksame Kommunikation sei gar nicht möglich. „Das zeigt doch, wo die Reise hingehen soll: Man sucht eine Zahl, die möglichst viele gesellschaftlich relevante Themen abbildet, um diese Zahl öffentlichkeitswirksam vermarkten zu können“, kritisiert Bauer scharf. „Man will sich als Regierung darüber freuen können, wenn sich der dimensionslose Wert des Wohlfahrtsmaßes etwa von 180 auf 183 erhöht und die Opposition möchte die Zahl idealerweise in der politischen Arbeit gegen die Regierung einsetzen.“ Dass Wohlfahrt in Zukunft also bald in Kindern, Glück oder Rentenhöhe gemessen werden könnte, kann Bauer nicht verstehen: „Eigentlich muss man lediglich die bestehenden Werte besser nutzen und kommunizieren. Das ist gewinnbringender als eine vermeintlich allwissende Gesamtkennzahl“, fordert er.
Fotos: Deutscher Bundestag / Klonk & Neuhauser & Truthout.org via flickr.com