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Eva Illouz, geboren 1961 in Marokko, ist Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem. 2009 wurde sie von der Wochenzeitung „Die Zeit“ als eine von 12 Intellektuellen ausgemacht, denen man zutraut, das Denken der Zukunft zu verändern. Mit ihren Bänden „Der Konsum der Romantik“ (engl. 1997), ihren Frankfurter Adorno Vorlesungen „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ (2006) und ihrer Studie „Die Errettung der modernen Seele“ (engl. 2008) legte die Soziologin eine Reihe von erhellenden zeitdiagnostischen Analysen vor, die sich vor allem mit der Frage befassen, in welcher Beziehung Liebe und Gefühle „zur Kultur und den Klassenverhältnissen des Spätkapitalismus“ stehen.
Im Rahmen des Formats „A Day with ..." der Zeppelin Universität haben fortgeschrittene Studierende und Promovierende die Möglichkeit, Einblicke in die Forschungspraxis von herausragenden Wissenschaftlern zu erhalten. 2012 besuchte der Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft Winnfried Menninghaus die ZU, 2011 war der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour zu Gast.
Auf Basis der Lektüre ihres Buchs „Die Errettung der modernen Seele“ stellte Illouz im März 2013 im Rahmen von "A Day with" nicht nur ihre Thesen, sondern auch ihre empirischen Bricolagetechniken zur Diskussion. Der Tag endete mit einem öffentlichen Abendvortrag.
„Der Konsum der Romantik“, „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“, „Warum Liebe wehtut“ – Illouz‘ Bücher wirken auf den ersten Blick wie eine unterhaltsame Lektüre für den nächsten Frauenabend. Doch der Anschein trügt. In ihren Werken analysiert die Soziologin soziale Phänomene der Gegenwart – und kommt zu brutal ernüchternden Ergebnissen: Stück für Stück entlarvt Illouz, dass der rationale Kapitalismus und die irrationale Liebesutopie der Moderne keineswegs Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Die Wissenschaftlerin spricht von der Romantisierung der Waren als materielle Bindeglieder zwischen den Menschen und der gleichzeitigen Versachlichung der romantischen Liebe in Konsumartikeln, die Gefühle von Zweierbeziehungen symbolisch verkörpern sollen. Anders gesagt: Die romantische Liebesvorstellung ist der intime, unentbehrliche Teil des demokratischen Wohlstandsideals der Moderne; die kollektive Utopie quer zu und über alle sozialen Schichten hinweg. Eine schmerzlich frustrierende Sichtweise, könnte man meinen, doch die Soziologin widerspricht: „Ich kann und will nicht sagen, ob das Phänomen gut oder schlecht ist, oder ob unsere Gesellschaft dadurch besser oder schlechter wird. Interessant ist doch, wie und warum es sich etablieren konnte und was es für unser Zusammenleben leistet“.
Es ist vor allem ihre Herangehensweise, die Illouz‘ Forschung und ihre Ergebnisse so spannend macht. Sie greift Themen mit direktem Alltagsbezug auf, sammelt in Interviews, Beobachtungen und Gesprächen Daten und vergleicht diese mit Textmaterial, um zu beschreiben, was ein Phänomen für die Gesellschaft leistet: Warum es gerade zu seiner Zeit entstand und wie es sich etablieren konnte, wem es nutzt, in welchen Geschichten es auftaucht, welche Ideale daran anknüpfen. Ihre Ergebnisse sind überraschend unmittelbar, ihre Bücher für eine Wissenschaftlerin ungewöhnlich verständlich verfasst. Dennoch sind ihre Erkenntnisse weder banal noch betrachten sie Einzelfälle: Durch ihre Forschung stellt Illouz grundsätzliche Thesen zur Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens auf. Und mit ihren Analysen trifft die Soziologin den Nerv der Zeit und thematisiert Phänomene, die die Gesellschaft der Moderne prägen. Ihre Ergebnisse geben Denkanstöße und stellen zur Diskussion, wie Gesellschaft gedacht werden kann. Wohl auch deshalb wurde Illouz 2009 von der Wochenzeitung „ZEIT“ als eine der zwölf Intellektuellen bezeichnet, die das Denken unserer Zeit verändern könnten.
Doch ihr Plädoyer für das Vermeiden eines moralischen Urteils über soziale Akteure ist eine wissenschaftliche Methode, keine Lebenseinstellung. Auf die Frage, ob auch ihr Alltag von einer derartig nüchternen Neutralität geprägt ist, lacht sie auf: „Überhaupt nicht! Ich bin ein wahnsinnig wertender Mensch! Und ich weiß genau, was ich richtig finde und was nicht: Als Soziologin interessiert mich nur, wem beispielsweise sexuelle Freiheit nutzt und wie sie legitimiert wurde, aber als Bürgerin würde ich sie sofort und mit aller Kraft verteidigen.“
Die grundlegendste Frage der Soziologie – wie Gesellschaft funktionieren kann – lässt sich in Illouz‘ Verständnis mit einer wertenden Herangehensweise allein nicht erklären. Ihre Ergebnisse zur Forschung über die Psychoanalyse, die sie in „Die Errettung der modernen Seele“ veröffentlicht hat, versteht sie deshalb auch nicht als Kritik an der Psychotherapie – obwohl sie ihr die Fähigkeit zur „Errettung der modernen Seele“ abspricht. Das große Potential des psychotherapeutischen Diskurses liege woanders: Eben in der Möglichkeit der Untersuchung, wie Kultur funktioniert. Die Expertin spricht von veränderten Vorstellungen des Zwischenmenschlichen; vom Entstehen eines neuen „emotionalen Stils“, in dessen Konsequenz spezielle sprachliche, wissenschaftliche und rituelle Techniken entwickelt würden, um die im Fokus stehenden Gefühle einer Kultur begreifbar zu machen. So beobachtet Illouz zum Beispiel die Etablierung der therapeutischen Sprache als qualitativ neue Sprache des Selbst und sieht in ihr deshalb wiederum eine einzigartig unverzerrte Möglichzeit zu verstehen, wie die Sprache das menschliche Selbstverständnis beeinflusst.
Die Soziologin analysiert den Werdegang und die Etablierung der Psychotherapie quer durch alle sozialen Schichten und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass auch die scheinbar am Individuum und seiner „Seele“ interessierte Psychotherapie klaren ökonomischen Maßgaben folgt. Und dabei, so scheint es, bleibt von der Seele wenig übrig: Der Begriff taucht nur im Titel auf und wird im Buch mit der „Psyche“ oder dem „Selbst“ ersetzt. Lässt sich die „Errettung der modernen Seele“ also als hoffnungsloses Vorhaben beschreiben? Illouz erklärt, die Verdrängung des Begriffs der „Seele“ durch den der „Psyche“ oder des „Selbst“ sei schlichtweg, was im therapeutischen Diskurs geschehe. Das bedeute jedoch nicht, dass es eine „Seele“ jemals als etwas real Existierendes gegeben habe: „Das Buch handelt davon, was passiert, wenn Menschen über sich selbst nachdenken und dabei nicht mehr glauben, sie hätten Seelen, sondern stattdessen von sich selbst als Wesen mit Psychen sprechen“, so die Wissenschaftlerin: „Es geht bei diesen Begriffen immer um Wahrnehmungsveränderungen“.
Aus ihrer Forschung leitet Illouz schließlich Voraussetzungen für die Etablierung gesellschaftlicher Phänomene wie den Siegeszug von Freud und Co. ab: Die psychotherapeutischen Theorien passen – wie auch schon die Idee der romantischen Liebe – zur Gesellschaftsstruktur, bieten Orientierung in unsicheren Bereichen sozialen Verhaltens und sind in sozialen Netzen institutionalisiert. Laut Illouz sind das die grundsätzlichen Voraussetzungen für den Erfolg und die Beständigkeit von neuen Ideen. In einer kapitalistischen Gesellschaft legt das die Vermutung nahe, dass sich eine soziale Veränderung nur dann etablieren kann, wenn sie ökonomischen Maßgaben folgt – und dass viele scheinbar unabhängig vom Kapitalismus entstehende Phänomene sehr wohl im Dienste des wirtschaftlichen Systems provoziert oder vorangetrieben werden.
Illouz betont jedoch, Marktorientierung sei nur eine denkbare Form, wie soziale Entwicklungen zur Gesellschaft passen können. Zumindest für die Psychotherapie und das Ideal der romantischen Liebe spielte die Tauglichkeit der Phänomene zur Integration in den Kapitalismus dennoch eine durchaus entscheidende Rolle: „Identität wird heutzutage vorrangig durch den Markt geprägt – einerseits durch den Konsum von Gütern und andererseits durch die Möglichkeit, ein ‚Selbst‘ durch Konsum zu kreieren und zu modellieren.“
Die Konsequenzen, die Illouz aus der Erkenntnis der Modellierbarkeit der Identität zieht, sind weitreichende: Sie enden in einem Verlust der soziologischen Differenzierbarkeit der Geschlechter. „Was sich zurzeit entwickelt, ist eine Art androgyne Identität, die zugleich männlich und weiblich ist und sowohl zu Mitgefühl und Durchsetzungsvermögen, Aggressivität und Empathie, fähig ist. Das sind natürlich nicht die einzigen Kräfte, die auf Identitäten einwirken – auch Konsumkultur und bestimmte, stark polarisierende Modelle von Weiblichkeit spielen da eine wichtige Rolle. Nichtsdestotrotz befinden wir uns in der Mitte eines Prozesses, in dem Geschlechterkodes zunehmend verwischen.“
Steuern wir, durch das derartige Unmöglichmachen intersexueller Liebe, auf eine Gesellschaft zu, die sich durch ihre Kinderlosigkeit abschafft? Laut Illouz ist das ein Prozess, der in den europäischen Gesellschaften längst begonnen hat und bereits erste Auswirkungen zeigt – und er hat viel mit den Erwartungen zu tun, mit denen Frauen sich konfrontiert fühlen: „Frauen haben nicht mehr das Gefühl, Kinder bekommen zu müssen, um sich weiblich zu fühlen. Im Kapitalismus geht es für den Menschen darum, sich sein eigenes Leben in einem hochgradig wettbewerbsorientierten Umfeld aufzubauen. Es geht um Individuen, die mit immensem Druck umgehen müssen und um junge Menschen, die wissen, dass sie in gigantische Unsicherheiten und Erwartungen hineinwachsen. Lange Arbeitszeiten und die Selbstverständlichkeit von Mobilität und Spontaneität bei gleichzeitigen Perioden der Arbeitslosigkeit – all das kultiviert ein Klima, in dem Verbindlichkeiten zur Last werden. Und in Anbetracht des Stresses, der Unsicherheit und der Ängste herrscht ein generelles Misstrauen gegenüber jeder Form von Anhängsel und Verpflichtung.“
Illouz, die selbst Mutter von zwei Söhnen ist, nimmt als Soziologin Abstand von einer Bewertung der Ergebnisse ihrer Forschung. Doch ihre Erkenntnisse über modernes Zusammenleben liefern Diskussionsanstöße, die den wissenschaftlichen Elfenbeinturm längst verlassen haben: Sie werfen die Frage auf, ob soziales Zusammenleben und die menschliche Selbstwahrnehmung auch wieder anders denkbar sein kann, vielleicht sogar anders denkbar sein muss. Und sie stoßen die Diskussion darüber an, welche Relevanz wir unseren Gefühlen und der Psyche noch zuschreiben, wenn wir sie für konstruiert und instrumentalisiert halten.
Bilder: photocase/David Dieschburger (Titel), Frauke Fichtner (Text)