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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschreibt in seinem neuesten Buch wie der Egoismus zum dominanten Prinzip der Zivilgesellschaft werden konnte. Während der Zeit des Kalten Krieges führte die Erfindung spieltheoretischer Modelle zur Konstruktion eines egoistischen nutzenorientierten Menschenbildes, mit denen man die Handlungen des Gegners vorauszuschauen versuchte. Mit dem Ende des Kalten Krieges gingen die Wissenschaftler vom Pentagon an die Wall Street und etablierten dort die Logik des Kalten Krieges. So wurden Menschen und Staaten zu Gefangenen in einem Spiel, dass von Maschinen und Algorithmen an Aktienmärkte gespielt wird und immer weiter in den Alltag vordringt. Das Ende des Spiels könnte laut Schirrmacher ein Ende der Demokratie bedeuten.
Luhman zufolge ist die funktionale Differenzierung eine gesellschaftliche Ordnung, die die überfordernde Komplexität gesellschaftlicher Probleme, die "strukturelle Verknüpfung von erwünschten und unerwünschten Seiten des modernen Lebens" möglich gemacht haben. Eine Gesellschaft ist funktional differenziert, wenn die Lösung spezifischer gesellschaftlicher Probleme durch die Bildung von eigenständigen Teilsystem vorgenommen wird. Daraus folgt, dass es keine Rangordnung der Funktionen gibt, da nicht für jede Situation gesagt werden kann, dass ein Funktionssystem wie die Wirtschaft wichtiger als ein anderes Funktionssystem wie die Politik ist.
Quelle: Luhman, Niklas (2009): Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zu funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. 4. Aufl. VS Verlag, Wiesbaden
Eine kapitalismuskritische Haltung zu vertreten, ist in diesen Zeiten nicht provokativ und dennoch notwendig. Zeigen doch Finanzkrise, Eurokrise, Wirtschaftskrise und Staatsschuldenkrise nur zu deutlich, dass im heutigen Finanzmarktkapitalismus etwas aus dem Lot geraten ist.
Über die Geschichte und die Auswirkungen des Phänomens, lässt sich in aufschlussreichen kapitalismuskritischen Schriften wie Joseph Vogls „Das Gespenst des Kapitals“ oder Collin Crouchs „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" nachlesen.
Ein neues Werk in der Gattung der polemischen Kapitalismuskritik ist Frank Schirrmachers „Ego. Spiel des Lebens“. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung prangert die Dominanz spieltheoretischer Modelle an Finanzmärkten an, die den Menschen auf einen nutzenmaximierenden und egoistischen Homo oeconomicus reduzieren - seiner Meinung nach mit verheerenden Folgen.
Dabei fällt auf, dass sich der Autor und der mediale Diskurs gewisser Überspitzungen wie „Monster“ und „Gespensterversammlung“ (Börse) bedienen. Nicht selten wird so geradezu eine Ohnmacht gegenüber einem übermächtigen Etwas geschürt. Dirk Baecker, Soziologe und Systemtheoretiker an der Zeppelin Universität sieht Schirrmacher dabei vor allen Dingen als geschickten Effekt-Setzer in den Massenmedien. Seine Strategie? - Das Feuilleton als einen ernstzunehmenden Diskutanten zu positionieren. Kapitalismuskritik sei dabei ein Ventil für Kritik an sich und weniger mit einer Vorstellung der Überwindung oder der Revolutionierung verbunden. Der Kapitalismus wird, so Baecker, als alternativenloses System, wie es Angela Merkel formulierte, diskutiert und kritisiert.
Diese offenbare Alternativlosigkeit entstand aber erst mit dem Wegfall der kommunistischen Alternative. Dirk Baecker weist dennoch darauf hin, dass kein Gesellschaftstheoretiker diese alternative Konstruktion je ernst genommen habe, denn eigentlich seien sich die beiden Varianten recht ähnlich. Sowohl Kommunismus als auch Kapitalismus zeichneten sich durch eine hochgradig durchbürokratisierte Gesellschaftsordnung aus. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann sah letztlich den Unterschied darin, dass im Kommunismus die Kunden und im Kapitalismus die Waren Schlange stehen.
Folgt man diesem Argument, scheint es nie eine echte Alternative zum Kapitalismus gegeben zu haben und es lässt die Frage zu, ob der Begriff Kapitalismus an sich die richtige Beschreibung für die aktuelle Gesellschaft ist. Baecker betont: „Das Stichwort Kapitalismus taugt nur so lange etwas, wie man eine Gesellschaftstheorie à la Karl Marx betreibt.“ Marx, der Begründer der Gesellschaftstheorie, hat eine große Leistung vollbracht, betont der Soziologe. Diese Leistung sei aber damit erkauft worden, dass er die beobachtbare Gesellschaft als eine von der Wirtschaft, dem Kapital, dominierte Gesellschaft beschrieben hat. „Und es ist natürlich die Frage, ob man dieser These nach wie vor zu folgen bereit wäre.“
Betreibt man jedoch eine Gesellschaftstheorie nach Max Weber, Emile Durkheim, Talcott Parsons oder Niklas Luhman, dominiert nicht die Wirtschaft alle anderen gesellschaftlichen Prozesse. Vielmehr sorgt die funktionale Differenzierung für die ebenbürtige Existenz von verschiedenen Systemen wie Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und vielen mehr. Beobachtet man die Entwicklung der industrialisierten Länder und den Aufstieg der Finanzwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten, wird deutlich, dass es ungeklärt bleibt, ob dieser Erfolg der Wirtschaft und des liberalen Prinzips auf die Dominanz der Wirtschaft zurückzuführen ist. Ebenso plausibel scheint, dass wir es mit einem ständigen Ringen um diese Dominanz in der Gesellschaft zu tun haben. Denn klar ist, für die Liberalisierung von Finanzmärkten waren letztlich auch Politiker verantwortlich. Das Beispiel Amerika zeigt es deutlich: Erst die amerikanische Regierung unter Bill Clinton ermöglichte die Aufhebung des Glass-Steagall-Actes und die Vergabe von billigen Krediten an kaum zahlungskräftige Kunden.
Vertritt man die Position, dass sich die heutige Gesellschaft zu einer Wissensgesellschaft mit immer komplexer werdenden Subsystemen entwickelt, wird es schwierig, einem einzelnen Akteur wie der Wirtschaft den schwarzen Peter zuzuschieben. Und dennoch bietet die pauschale Kapitalismuskritik einen Einstieg in dann sehr detaillierte Beobachtungen zur sozialen Ungleichheit und ökologischen Verantwortungslosigkeit, Ausbeutung von Arbeitskraft, aber auch psychischer Folgeprobleme von der "Gier" bis zum "Burnout".
Doch nur den Kapitalismus zu kritisieren, führt an einer präzisen Beschreibung der Realität vorbei. Dirk Baecker argumentiert, dass bei vielfältigen Subsystemen, die alle nach Erfolg und Selbsterhaltung streben, ebenso viele Kritiken notwendig sind. Es bräuchte demnach nicht nur Kapitalismuskritik sondern, Politik-Kritik, Kunst-Kritik, Medizin-Kritik und viele mehr. Man müsse Nein sagen können, wenn man scharf genug beobachten können wolle, betont der Soziologe. Was unreflektierte Kapitalismuskritiker statt dessen betreiben, hat mit scharfer Beobachtung nicht viel zu tun. Denn wer das System als Ganzes für übermächtig erklärt, seine eigene Position als hilflos markiert und sich auf diese Weise in Resignation und Verantwortungslosigkeit flüchtet, der begibt sich in die komfortabelste Situation, die es gibt, so Baecker.
Bild: photocase (steffne)