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Privatdozent Dr. Marcel Kau, LL.M. (Georgetown), hat sich 2013 an der Universität Konstanz im Öffentlichen Recht sowie im Völker- und Europarecht habilitiert und vertritt an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Professur für Staats- und Verwaltungsrecht. Zudem nimmt er seit 2012 Lehraufträge an der Zeppelin Universität u.a. im Öffentlichen Recht, Verwaltungsrecht sowie im Völkerrecht wahr.
Am 26. Mai 1993 beschloss der Deutsche Bundestag die Neuregelung des Asylrechts, diesen Vorgang nennt man seitdem Asylkompromiss. Bis dato fand sich im Artikel 16 GG lediglich der Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht"; das Grundrecht unterlag keinem Gesetzesvorbehalt. Die Änderung des Verfassung und des Asylverfahrensgesetzes schränkte die Möglichkeiten ein, sich erfolgreich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen. Damals stimmte die Oppositionspartei SPD mit der schwarz-gelben Regierung und ermöglichte so die nötige Zweidrittelmehrheit. Die Gesetzesänderung ist bis heute umstritten, Kritiker bezeichnen sie als "Abschaffung des Grundrechts auf Asyl".
"Das Boot ist voll!" ist eine im Zuge der deutsche Asyldebatte entstandene Parole. Angesichts steigender Asylbewerberzahlen und zunehmender Angst vor "Überfremdung" starteten CDU und CSU 1986 eine Kampagne gegen den Missbrauch des Asylrechts. Später wurde sie als eine der polemischsten und folgenreichsten politischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte bewertet. Politikern und Medien wird vorgeworfen, durch die zum Teil populistische Asyldebatte die Stimmung gegen Ausländer angeheizt zu haben. So kam es Anfang der 1990er Jahre zu mehreren fremdenfeindlich motivierten Ausschreitungen, etwa in Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen,
Am 12. Juni 2013 verabschiedete das Europäische Parlament Fristen für die Bearbeitung von Asylanträgen. Außerdem einigten sich die Abgeordneten die Einführung von Grundrechten für Asylsuchende, die in der EU ankommen. Zwar wurden dadurch gewisse Mindeststandards vorgeschrieben und die Situation für Flüchtlinge in einigen Mitgliedsstaaten verbessert, doch insbesondere Linke und Grüne kritisieren die Änderungen als verpasste Chance.
20 Jahre Asylkompromiss – ein Grund zum Feiern?
Dr. Marcel Kau: Ich würde das nüchtern beurteilen. Im sogenannten Asylkompromiss hat man damals die Lösung für ein reales Problem gesehen: Die rasant steigenden Asylbewerberzahlen waren eine Überforderung für Gesellschaft, Verwaltung und Justiz. Insgesamt haben sich die Erwartungen erfüllt, die Problemlösung ist gelungen. Damit könnte man es auf sich beruhen lassen, wenn die Gegner der damaligen Einigung nicht weiter versuchen würden, ihre Wirkung zu diskreditieren. Wenn man eine andere Migrationspolitik in Deutschland haben möchte, wird man sicher zu einer weitaus negativeren Beurteilung kommen. Auf der anderen Seite erscheint es mir zu viel verlangt, den Beschluss zu feiern. Viele verfassungspolitische Kompromisse lassen beide Seiten mehr oder minder unglücklich zurück. Beim Asylkompromiss ist das nicht anders.
Was genau wurde damals eigentlich beschlossen?
Kau: Ursprünglich hieß es in Artikel 16 des Grundgesetzes: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Durch den Asylkompromiss hat man den Zugang zu politischem Asyl erschwert, indem das Prinzip der sicheren Drittstaaten und das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten eingeführt wurde. Außerdem hat der Beschluss den Vollzug asylrechtlicher Entscheidungen erleichtert und den Rechtsschutz eingeschränkt, der vorher sehr umfassend war.
Welche Folgen hatte die Drittstaatenregelung für die Asylbewerber?
Kau: Die Drittstaatenregelung besagt, dass ein Asylbewerber, der auf seinem Weg nach Deutschland durch einen Drittstaat, z.B. einen anderen EU-Mitgliedstaat, gereist ist, dort einen Asylantrag stellen muss. Kritiker sagen, nun könne niemand mehr Asyl in Deutschland beantragen, der auf dem Landweg hierher kommt. Das stimmt auch weitgehend, da bis auf die Schweiz alle Nachbarstaaten Mitglieder der EU sind. Aber es gibt ja immer noch Flugzeuge und Schiffe. Und so haben 2012 rund 65.000 Personen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Das ist auch nicht eben wenig.
„Das Boot ist voll!“, hieß es damals. Realität oder bloßer Populismus?
Kau: Wie viele Asylbewerber ein Land aufnehmen kann, ist vor allem eine politische Entscheidung. „Das Boot ist voll!“ war sicherlich eine sehr überspitzte Aussage, die in verschiedener Hinsicht problematisch ist. Tatsächlich gibt es aber einen wahren Kern: den Anstieg der Asylbewerberzahlen am Anfang der 1990er Jahre. 1992 beantragten knapp 440.000 Menschen Asyl, fast vier Mal so viel wie 1989.
440.000 Menschen bei einer Bevölkerung von 80 Millionen. Ist das tatsächlich ein Problem?
Kau: Sie müssen berücksichtigen, dass alle administrativen und tatsächlichen Kapazitäten auf wesentlich geringere Zahlen ausgelegt waren. Es gab nicht genügend Sachbearbeiter im zuständigen Bundesamt, die Verwaltungsgerichte waren überlastet, die Asylbewerberunterkünfte dem sprunghaften Anstieg nicht gewachsen. Das Ergebnis war eine vollkommene Überforderung aller beteiligten Stellen. Die Politik musste entscheiden, ob der Verwaltungsapparat der Asylbewerberzahl angepasst werden soll, oder ob man die Zahl der Asylbewerber der Größe des Apparates anpasst. Dahinter steckt natürlich auch die Frage: Wofür gibt der Staat Geld aus und wofür nicht?
Wie viele der Flüchtlinge, die Asyl beantragen, dürfen denn auch tatsächlich in Deutschland bleiben?
Kau: Nicht jeder Asylbewerber ist automatisch Asylberechtigter und nicht jeder, der seinen Heimatstaat verlässt, ist auch automatisch Flüchtling im Rechtssinn. Schon vor dem Asylkompromiss wurde nicht einmal jeder zehnte Antrag akzeptiert. Heute liegt die Anerkennungsquote nur noch bei ein bis zwei Prozent, das sind weniger als 1000 Personen pro Jahr. Das heißt aber nicht, dass alle abgelehnten Asylbewerber unmittelbar abgeschoben würden. Es gibt noch verschiedene andere Schutzmöglichkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz, die in den letzten Jahren zu einer „Schutzquote“ zwischen 20 und 30 Prozent geführt haben. Man kann das für zu wenig halten. Ich fände es aber kühn zu behaupten, dass es gar kein Asylrecht oder keinen humanitären Schutz in der Bundesrepublik mehr gäbe.
Kritiker des aktuellen Asylrechts sprechen oft von der „Festung Deutschland“. Kann man Flüchtlinge einfach aussperren?
Kau: Den Begriff „Festung Deutschland“ halte ich für vollkommen falsch. Man muss die Veränderung des Asylrechts von 1993 im Kontext der europäischen Integration sehen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgehalten, dass mit den damaligen Änderungen eine europaweite Regelung des Flüchtlingsschutzes erreicht werden kann. Am 12. Juni 2013 hat sich die EU auf das „Common European Asylum System“ geeinigt, das ohne den Asylkompromiss 20 Jahre zuvor wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre.
Ist es im Zeitalter der Globalisierung noch möglich, Asylfragen auf nationalstaatlicher Ebene zu regeln?
Kau: Nein, es gibt keine nationale Asylpolitik in Europa mehr. Wobei der aktuelle Beschluss lediglich Regelungen weiterentwickelt, die bereits seit einigen Jahren bestehen. Das ist ein weiterer Schritt zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem mit einem einheitlichen Asylrechtsraum. Das ist nur konsequent: Der Schengen-Raum ohne effektive Grenzkontrollen führt dazu, dass sich Asylbewerber ungehindert in der EU bewegen könnten. Ein Asylverfahren in einem Mitgliedstaat ohne europäische Koordinierung wäre also zum Scheitern verurteilt. Das würde zwangsläufig zum sogenannten „Asylum shopping“ führen: Abgelehnte Asylbewerber würden es dann einfach im nächsten Land versuchen, um sich unter unsicheren Aufenthaltsbedingungen länger in Europa zu halten. Das ist weder im Interesse der Betroffenen, noch der EU-Mitgliedstaaten.
In den vergangenen 20 Jahren sind fast 20.000 Menschen an den Außengrenzen der EU gestorben. Muss man die Praxis der Abschottung da nicht mal hinterfragen?
Kau: Eine offenere Asylpolitik hätte ebenfalls Schattenseiten. Dann droht der „brain drain“, also dass vor allem diejenigen, die Herkunftsstaaten verlassen, die dort dringend gebraucht würden: Ärzte, Ingenieure, Techniker. Wenn Europa den Entwicklungsländern auch noch ihre Fachkräfte wegnimmt, wäre das für diese Staaten ein weiterer Rückschritt. Ich kann zwar jeden verstehen, der sich von der Wanderung nach Europa ein besseres Leben verspricht, aber erstens tritt das vielfach nicht ein und zweitens wird der Herkunftsstaat dadurch zusätzlich geschwächt.
Trotzdem: Dass tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, kann doch niemand wollen,– und auch nicht tatenlos mit anschauen.
Kau: Das ist zweifellos eine humanitäre Katastrophe. Wer das verhindern will, muss zunächst in den Herkunftsstaaten ansetzen und dort Anreize zum Bleiben schaffen. Es braucht wirtschaftliche und politische Perspektiven. Hieran muss sich die EU, wenn schon nicht aus humanitären, dann wenigstens aus migrationspolitischen Gründen beteiligen. Am ehesten könnte ich mir Einwirkungen auf die Staaten vorstellen, aus denen die Transportboote aufbrechen. Allerdings sind die Einflussmöglichkeiten der EU in manchen Herkunftsstaaten ziemlich gering, da deren politischen Systeme korrupt und die tatsächliche Lage zum Verzweifeln ist. Hier kann die EU oft herzlich wenig tun, was die Menschen vor Ort erreicht. Es gibt in der Asylpolitik einfach keinen Königsweg, also bleibt es beim Manövrieren zwischen „kein Asyl“ und „keine Grenzen“. Damit macht man sich zwar angreifbar, aber beide Extrempositionen sind viel gefährlicher und letztlich auch schädlicher.
Titelbild: Michi
Text: Michi | JungeAkademie (alle unter CC BY-NC-SA 2.0)