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Franziska Maier studierte an der Zeppelin Universität Politik- und Verwaltungswissenschaften und sah in ihrer Bachelor-Arbeit die Möglichkeit, politische Folgen eines kulturellen Wandels zu untersuchen. Nach dem Abschluss forscht sie im Rahmen ihres Praktikums bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu zivilgesellschaftlichen Fragen in der Eurokrise.
In der Arbeit spielt der Begriff der Staatsbürgerschaft eine wichtige Rolle. Was bedeutet das überhaupt?
Franziska Maier: Wie der Begriff vermuten lässt, geht es bei den Fragen zur Staatsbürgerschaft um das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Der Staatsbürgerschaftsbegriff beeinflusst, wie der Staat organisiert ist, welche Aufgaben er wahrnimmt und inwieweit der Bürger in Politik mit einbezogen wird. Es gibt dazu viele verschiedene Theorien und Konzepte, die beiden Grundsätzlichsten sind die liberale und die republikanische Staatsbürgertheorie.
Die liberale Theorie setzt den Schwerpunkt auf die zivilen, politischen und sozialen Rechte des Bürgers, die ihm ermöglichen, sein Leben ganz individuell auszugestalten. Demnach ist es dem Bürger möglich, sich in Politik und Gesellschaft einbringen, er kann aber genauso im eigenen Privatleben aufgehen. Im Gegensatz dazu schließt die republikanische Staatsbürgertheorie neben Rechten auch Pflichten des Bürgers ein. Jeder soll dabei zum Allgemeinwohl seiner Gesellschaft beitragen, indem er Verantwortung übernimmt, diese aktiv mit zu gestalten. Im republikanischen Verständnis existiert der Staat nicht nur als Vertrag, sondern als Gemeinschaft.
Und warum eignet sich ausgerechnet die Occupy-Bewegung, um an ihr die Veränderung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat zu untersuchen?
Maier: Viele Menschen sehen die liberale Demokratie in einer Krise. Gesellschaftliche Fragmentierung nimmt zu, und traditionelle Formen politischer Beteiligung nehmen ab. Gleichzeitig verlieren Nationalstaaten in Europa durch den Einfluss der Finanzmärkte an Handlungsmacht und so auch an Bedeutung. Die Occupy Bewegung greift genau diesen Wandel auf und nimmt ihn als Anlass zur Veränderung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Damit stellt sie neue Ideen zur politischen Rolle des Einzelnen an und impliziert eine Veränderung der Aufgabenverteilung zwischen Bürger und Staat. Zuletzt zeichnet sich die Bewegung durch ihre Zugänglichkeit und institutionelle Ungebundenheit aus. Das ermöglicht eine breitflächige Debatte ohne vorgefertigte Basis oder Grundannahmen.
„We are the 99 percent?“ Wer sind diese 99 Prozent, und warum und wogegen protestieren sie?
Maier: Die Occupy-Bewegung ist 2011 in New York entstanden und hat sich zunächst gegen die Übermacht der Finanzmärkte positioniert. Danach haben sich die Forderungen schnell auf verschiedene Thematiken ausgeweitet, die mit der Rückverteilung der Entscheidungskraft von Eliten auf die Mehrheit zusammenhängen. Im Großen und Ganzen ging es den Teilnehmern um einen Protest gegen das bestehende System und die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus.
Oft bezeichnen Anhänger von Occupy die Abwesenheit konkreter Forderungen als größte Stärke: Dies mache es möglich, jeden zu integrieren und verschiedene Meinungen ernst zu nehmen. Tatsächlich waren verschiedenste Alters- und Berufsgruppen bei den Protesten vertreten.
Welche Forderungen stellen die befragten Aktivistinnen und Aktivisten an die Politik?
Maier: Alle Befragten waren sich einig, dass der Staat seinen Aufgaben unzureichend nachkommt. Sie beschreiben eine Entpolitisierung von Politikern, die den Markt anstelle der Bürger bedienen und so die repräsentative Demokratie aushöhlen. Alle halten vielfältige, unabhängige Medien für wichtig, da diese als Bindeglied zwischen Bürger und Politik funktionieren sollen. Ein Großteil der Forderungen zielt auf eine Umverteilung von Macht auf die Gesellschaft durch das Einführen flacher Hierarchien. Das Ideal einer aktiven Demokratie soll hier durch die Ermächtigung des Bürgers erreicht werden, zum Beispiel durch Integration von Bewegungen in politische Entscheidungsfindung oder den Einsatz von Bürgerkonventen. Nur so würden Themen behandelt, die den Bürgern wichtig sein, und nur so könnten Bürger die Gemeinschaft entscheidend mitgestalten.
Ein zentrales Motiv der Occupy-Bewegung ist die Forderung nach Freiheit. Was verstehen die Aktivisten darunter?
Maier: Mit dem Wunsch nach Freiheit sind bei den Befragten zwei verschiedene Verständnisse verbunden: Zum einen wird die Freiheit mit der Abwesenheit von Pflichten und dem sicheren Leben innerhalb eines vom Staat gesetzten Rahmens gesehen. Zum anderen entsteht Freiheit, indem der Einzelne seine Gesellschaft aktiv mit gestaltet. Hierbei sollen die Bürger zur Teilhabe befähigt werden, indem sie zur Moral erzogen und teilweise gar zu politischem Engagement verpflichtet werden. Die Anerkennung durch die Gesellschaft und das Bildungssystem spielen dabei eine große Rolle.
Das Ziel der Proteste war eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat. Hatten die Demonstrantinnen und Demonstranten alle dieselbe Zielvorstellung?
Maier: Es gibt Kernbereiche, die für alle Befragten wichtig sind; die Vorstellungen eines guten Staatsbürgers und dessen Rolle im Staat weichen aber doch stark voneinander ab. Ich hab versucht, aus den Aussagen der Probanden kohärente Staatsbürgerkonzepte abzuleiten und bin dabei auf drei unterschiedliche Modelle gestoßen:
Das erste Modell sieht einen starken Nationalstaat vor, der seine Macht vollständig erhält, um dem Bürger größtmögliche Freiheit zu gewähren. Dies bedeutet Unabhängigkeit gegenüber Finanzmärkten ebenso wie von internationalen Organisationen oder anderen Ländern. Wirtschaft und Politik bleiben komplett unabhängig voneinander. Damit geht einher, dass der Staat nicht in den Markt eingreift. Auch internationale Abhängigkeiten müssten reduziert werden, wodurch etwa die volle EU-Mitgliedschaft beinahe unmöglich würde.
Auch im zweiten Modell, der Basisdemokratie, muss der Staat seine volle Entscheidungsmacht wiedererlangen. Darüber hinaus geht das Modell mit einem Bruch mit der repräsentativen Demokratie einher. Alltägliche politische Entscheidungen werden durch die Bürger selbst gefällt. Politiker fungieren als Bürokraten, die den Willen der Bevölkerung umsetzen. Das setzte eine starke Zivilgesellschaft und ein ausführliches soziales Sicherungssystem voraus, sodass alle Mitglieder gleichermaßen juristisch und gesellschaftlich anerkannt werden.
Im letzten Modell verschwindet die repräsentative Politik vollkommen. Politische Entscheidungen werden stattdessen durch selbstverwaltende Gemeinschaften getroffen. Jedes Mitglied übernimmt volle Verantwortung für die Funktionsfähigkeit seiner Gemeinschaft und wird sowohl in administrativen Fragen als auch in der politischen Entscheidungsfindung aktiv. Politische Entscheidungen beruhen so auf einem gesellschaftlichen Austausch, der den Beitrag jedes Mitglieds und somit das öffentliche Abwägen individueller Standpunkte beinhaltet.
Hat die Occupy-Bewegung die Diskussion über die Rolle des Bürgers im Staat neu entfacht? Lässt sich schon absehen, ob die Proteste nur ein Strohfeuer waren oder nachhaltige gesellschaftliche Wirkung entwickeln?
Maier: Heute ist von der Bewegung wenig übrig geblieben: Nur in Hamburg gab es bis vor kurzem noch eines der berühmten Occupy-Camps. Das zeigt, dass die Protestwelle und Begeisterung, die damit einherging, eher ein Strohfeuer waren, da die Bewegung auf politische Entscheidungen keinen Einfluss nehmen konnte.
Allerdings haben die Teilnehmer bereits zum Zeitpunkt meiner Interviews im Frühjahr versucht, weitere Plattformen zu finden, innerhalb derer sie ihre Forderungen weiter entwickeln können. Ich glaube, dass einige Aktivisten mittlerweile besser institutionalisierte Kanäle gefunden haben, um sich zu engagieren.
Außerdem hat die Occupy-Bewegung eine zivilgesellschaftliche Diskussion über die künftige Rolle des Bürgers im Staat angestoßen. Besonders die Eurokrise hat dem Bürger seine eigene Ohnmacht gegenüber liberalem Markt und supranationaler Verflechtungen vor Augen geführt Nicht zuletzt die Wahlergebnisse in Österreich und der Erfolg der AfD in Deutschland zeigen die Sehnsucht nach einer alternativen Gestaltung von Politik. Diese Ängste und Forderungen hätte die Politik schon längst adressieren sollen.
Titelfoto: Clint McMahon (CC BY-NC-SA 2.0)
Text: Glenn Halog (CC BY-NC 2.0) | Michael Fleshman (CC BY-SA 2.0)