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Betriebswirtschaftslehre & Digitalisierung

Wissenschaft in Gefahr?

Die beste Wirtschaftsinformatik ist diejenige, die man nicht braucht, weil sie in der Betriebswirtschaftslehre selbst wieder aufgegangen ist.

Prof. Dr. Reinhard Schütte
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Reinhard Schütte

    Seit dem Herbstsemester 2013 ist Reinhard Schütte Gastprofessor für Informationsmanagement und Handelsinformationssysteme an der Zeppelin Universität. Reinhard Schütte studierte Betriebswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte in Wirtschaftsinformatik am Institut für Wirtschaftsinformatik. Er wechselte als Wissenschaftlicher Assistent an das Institut für Produktion und Industrielles Informationsmanagement der Universität Duisburg-Essen. Darüber hinaus vertrat er den Lehrstuhl für Industrielles Management an der Universität Koblenz-Landau. Er wurde von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Münster habilitiert.

    Seine wichtigsten Forschungsbiete sind Fragen des Informationsmanagements, der Informationssystem-Architekturgestaltung, der Informationsmodellierung und der Wissenschaftstheorie.

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Wenn mich jemand fragt, ob Betriebswirtschaftslehre im Zeitalter der Digitalisierung noch eine Zukunft hat, würde ich wohl schnell mit „Ja“ antworten. Warum müssen wir uns diese doch provokante Frage nach der Zukunft der Betriebswirtschaftslehre ganz generell überhaupt stellen?


Prof. Dr. Reinhard Schütte: Zunächst sollte sich jede Institution die Frage nach der Zukunft stellen, denn es gibt in angewandten Wissenschaften keine zeitunabhängigen Phänomene. Der zunehmende Einsatz von Informationstechnologien in Betrieben führt dann zu der Frage, ob dieser genug im Fokus der Betriebswirtschaftslehre steht. Wenn die wirtschaftlichen Handlungen in Betrieben immer mehr automatisiert werden, würde die Betriebswirtschaftslehre, wenn sie sich nicht anpasst, in ihrem Gegenstandsbereich deutlich reduziert. Das kann für die Betriebswirtschaftslehre nicht zielführend sein.

Computer statt Rechenschieber: Die Digitalisierung macht auch vor der Betriebswirtschaftslehre nicht halt.
Computer statt Rechenschieber: Die Digitalisierung macht auch vor der Betriebswirtschaftslehre nicht halt.

Wenn wir eine klassische Wirtschaftswissenschaft in Relation mit dem Begriff Digitalisierung setzen, von welchen Zusammenhängen ist dann überhaupt die Rede und welche Gefahren drohen möglicherweise durch den digitalen Fortschritt?


Schütte: Die Digitalisierung als Begriff setzt dort an, wo bislang manuelle Aktivitäten oder Informationen außerhalb von IT-Systemen im Fokus standen. In einer Welt ohne die Maschine gibt es keine Digitalisierung. In der Denkwelt automatisierter Prozesse hingegen wird die Maschine immer mehr Aufgaben des Menschen übernehmen. Wenn man davon ausgeht, dass in 2050 ein mittlerer Computer für 1.000 Euro die Verarbeitungsfähigkeit der menschlichen Spezies hat, ist die Fortschreibung der heutigen Wirtschaftswelt nicht anzunehmen. Die Veränderungen in den Unternehmen werden viel gravierender, denn es gibt nicht zwingend betriebliche Aufgaben, die nur dem Menschen vorbehalten sind. Vor diesem Hintergrund gilt für die Wirtschaftswissenschaften als angewandter Wissenschaft, dass sie sich fragen muss, was sich in ihrem Gegenstandsbereich substantiell ändert. 


Eine Gefahr durch den digitalen Fortschritt wird nur derjenige befürchten, der die Veränderung nicht rechtzeitig als solche anerkennt. Die Milliardeninvestitionen der großen Technologiekonzerne führen zur Veränderung potentiell intendierter Anwendungen in Unternehmen – damit dem Anwendungsbereich des ‚Theoriekerns’ der Betriebswirtschaftslehre. Wenn sich die Forschung an den Universitäten zu weit von der Forschung in der Technologiepraxis entfernt, wird sie eines Tages zweiter Sieger sein. Denn warum sollen intelligente Menschen in der Praxis nicht zu interessanten Erkenntnissen kommen und diese der universitären Forschung vorbehalten bleiben? Dann wäre der Punkt erreicht. Dass die Lehre und Wissenschaft der Praxis hinterherläuft.

Zukunft in den Server-Räumen dieser Welt. Dort werden Aufgaben in Sekundenschnelle erledigt.
Zukunft in den Server-Räumen dieser Welt. Dort werden Aufgaben in Sekundenschnelle erledigt.

In Ihrer Antrittsvorlesung hat die „Wirtschaftsinformatik“ eine zentrale Rolle gespielt. Was hat es mit dieser Fachrichtung auf sich und in wie weit spielt sie im Spektrum der BWL eine Rolle?


Schütte: Die Wirtschaftsinformatik wird in der Regel als eigenständige Disziplin aufgefasst, denn Sie hat nicht nur einen abweichenden Erkenntnisbereich, sie setzt sich mit Informationssystemen auseinander, verwendet andere Forschungsmethoden und hat sich auch institutionell einen eigenen Rahmen geschaffen. Aufgrund der Verbindung von betriebswirtschaftlichen und informatikbezogenen Themen ist es eine äußerst komplexe Wissenschaftsdisziplin. Im Spektrum der BWL spielt die Wirtschaftsinformatik aktuell eine geringe Rolle, denn ihre Institutionalisierung innerhalb oder außerhalb von wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten führt möglicherweise dazu, dass in der Betriebswirtschaftslehre Informationssysteme eine zu geringe Aufmerksamkeit erhalten, da es Aufgabe der Wirtschaftsinformatik sei, sich damit zu beschäftigen.


Ganz grundsätzlich stellt sich oft die Frage, welche Auswirkungen wissenschaftliche Erkenntnisse auf die Praxis haben. Können Sie bei Ihren Beobachtungen irgendwelche Auswirkungen auf Märkte oder Wettbewerb feststellen?


Schütte: In einer angewandten Wissenschaft sind Theorien Aussagensysteme über die Realität, anders als in den Formalwissenschaften. Das Grundproblem besteht möglicherweise darin, dass in Unternehmen danach gestrebt wird, die heutige Realität zu zerstören, um dadurch Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Der Theoretiker hingegen ist erst einmal daran interessiert, einen existierenden Zustand zu beschreiben. Diese unterschiedlichen Perspektiven auf einerseits die Struktur und andererseits die Transformation dergleichen in eine neue, wird immer einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis mit sich bringen. Die Auswirkungen auf Märkte und den Wettbewerb sind enorm. Nehmen Sie beispielsweise die Erkenntnisse des strategischen Managements, die von vielen Unternehmen angewendet wurden, zum Beispiel die Fokussierung auf eine Massenfertigung im Zuge einer Strategie der Kostenführerschaft, und auf diese Weise den Wettbewerb veränderten. Auch für den Einsatz von Informationssystemen gilt, das digitale Geschäftsmodelle von Informationssystemen durchzogene Wertschöpfungsketten sind, bei denen die Technologiekompetenz zur Kernkompetenz wird.

"Big Data": große Chance für neue Forschungsfelder.
"Big Data": große Chance für neue Forschungsfelder.

Der Begriff „Big Data“ spielte in Ihren Ausführungen ebenfalls eine wichtige Rolle. Big Data spricht generell erst einmal von großen Datenmengen aus vielen Quellen, die umfassend erfasst werden können. Kann sich die Betriebswirtschaftslehre dies zu Nutzen machen oder ist sie dadurch eher bedroht?


Schütte: Die Betriebswirtschaftslehre kann sich durch "Big Data" viele unterschiedliche Gebiete, die früher in der Disziplin einen hohen Stellenwert gehabt haben, wieder zu Nutze machen. Wir werden durch Big Data menschliche Entscheidungen immer stärker auch auf die Maschine verlagern können. "Operations Research", Heuristiken und spieltheoretische Ansätze werden praxisnah einsetzbar. Amazon optimiert heute täglich 2,5 Millionen Preise. Was bedeutet das für die Preisforschung, für die messbar werdenden Kommunikations- und Werbemaßnahmen, für den Marketing-Mix insgesamt? Das Wettbewerbsverhalten wird in den Systemen abbildbar, ein großes Feld von Forschungsmöglichkeiten mit realen Daten wird sich eröffnen. 


Zum Schluss die kürzeste und wohl auch schwerste Frage: Wie müssen wir die Betriebswirtschaftslehre „sanieren“, damit sie weiterhin eine Zukunft hat?


Schütte: Sicherlich ist der Begriff „sanieren" übertrieben. Ich würde mir wünschen, dass die Perspektiven der Wissenschaftler sich mehr die realen Gegebenheiten fokussieren und diese für die Forschung aufgreifen und sich diese auch in der Lehre wiederfinden. Wenn in einem Planungsbuch über Planung geschrieben wird, in dem die Möglichkeiten von Systemen bei vollständig integrierter Planung nicht erörtert werden, dann bleib man hinter den Anwendungsmöglichkeiten zurück. Die betriebliche Komplexität wird in Systemen sichtbar, in der Betriebswirtschaftslehre darf man sie nicht ausblenden. Provokant könnte man auch sagen: Die beste Wirtschaftsinformatik ist diejenige, die man nicht braucht, weil sie in der Betriebswirtschaftslehre selbst wieder aufgegangen ist. 


Titelbild: fcstpauligab

Bilder im Text: n_erd | infocux Technologies | Tom Raftery

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