ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der junge Joseph Beuys war hin- und hergerissen und konnte sich zunächst nicht entscheiden, welchen Weg er im Leben einschlagen wollte. Mal wollte er Kinderarzt werden, dann besuchte er naturwissenschaftliche Vorlesungen. Er arbeitete sogar als Assistent von Tierfilmer Heinz Sielmann. Warum er sich letzten Endes doch für die Kunst entschied? „Es war die Angst, am Ende im Labor zu stehen und Fliegenbeine zu zählen“, erklärt der Gründer des FIU-Verlags Rainer Rappmann. „Das wollte Beuys auf gar keinen Fall. Er war an Gesamtzusammenhängen der Natur interessiert. Dahingehend wollte er Erkenntnisse gewinnen und vor allem Einfluss nehmen.“
Anfang der 1950er Jahre wird Beuys' Schüler bei Ewald Mataré. Doch auch die damalige Kunst ist ihm zu eng. Er will naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse in seine Arbeit einbeziehen, experimentiert mit Materialien wie Honig und Fett. Auch die menschliche Gestalt und die Figur des Hirschs interessieren ihn. Der Beuys, wie wir ihn heute kennen, entsteht allerdings erst nach seiner großen Krise. Aus der geht der Künstler mit einem neuen Verständnis von Kunst und Plastik hervor. Beuys' Begriff von der Erweiterten Kunst meint eine Art Anti-Kunst, die nicht auf die Institution Kunst und den musealen Raum beschränkt ist, sondern alle Belange des menschlichen Lebens mit aufnimmt.
„Es geht Beuys also nicht darum, einen neuen –ismus zu erfinden“, wie Karen van den Berg in der Diskussion nach dem Vortrag vergangene Woche feststellt, „sondern darum, die Gesellschaft umzustülpen. Er möchte keine neuen Museen, sondern eine anderes, freieres gesellschaftliches System und er war größenwahnsinnig genug, das zu denken.“ Die Plastik ist die Partitur für seine spätere Kunst, die direkt auf den Menschen anwendbar ist. Sie besteht aus zwei Polen, dem Gestaltungspol und dem Formpol. Die Möglichkeit der Plastik, sich durch Wärme auszudehnen, wird als Gestaltungsmoment gedacht. „Beuys wendet einen bildhauerischen Begriff für die Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse an und zeigt, dass wir als Mensch unser Denken selbst bestimmen können“, führt van den Berg aus. Der Begriff der Sozialen Plastik deutet darauf hin, dass es um ein plastisches Gestalten in allen sozialen, wenn auch unsichtbaren Bereichen geht, in das jeder Mensch mit seinem persönlichen kreativen Potential eingreifen kann. In diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler.
Obwohl zum Beispiel seine Werke „Eurasia“ und „I like America and America likes me“ bereits politisch motiviert sind, möchte Beuys die Ideen der Sozialen Plastik in der Realpolitik umsetzen. Auch die Idee der Dreigliederung nach Rudolf Steiner, bei der die Ideale der französischen Revolution auf drei gesellschaftliche Kraftfelder angewendet werden, soll verwirklicht werden: Freiheit für die Kultur, Gleichheit in der Demokratie und – „man höre und staune“, schmunzelt Rappmann – Brüderlichkeit in der Wirtschaft. Aus diesem Grund eröffnet er nicht nur sein Büro für direkte Demokratie 1972 auf der Dokumenta 5 in Kassel, in dem er 100 Tage mit den Besuchern über wichtige Gestaltungsfragen im politischen Feld diskutiert, sondern wird Gründungsmitglied der Grünen Partei. Ein großer Schritt für den Mann, der auch die Abschaffung der Parteiendiktatur gefordert hat. „Dieser gelebte Widerspruch konnte auf die Dauer nicht funktionieren“, so sieht es Rappmann in der Retrospektive, „wenn man eine Partei gründet, wird man auch eine. Das kann man den Grünen nicht vorwerfen, dennoch konnte Beuys nicht damit umgehen, dass Machtspielchen und Personalfragen statt die Verwirklichung der Sozialen Plastik im Mittepunkt standen.“ Also raus aus der Partei und zurück zur Dokumenta.
1982 stellte Beuys sein letztes großes Landschaftskunstwerk „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ in Kassel der Öffentlichkeit vor. 7000 Eichen wollte er im Raum Kassel pflanzen. Die Umsetzung des Projekts gestaltet sich schwierig, verzweifelt versucht Beuys Mittel für das Projekt zusammenzutrommeln. 1985, ein Jahr vor seinem Tod, tritt er vollends aus der Kunst aus. Was bleibt?
War Beuys am Ende überhaupt noch ein Künstler, ein letztes Genie? Und wenn er einer war, war er ein vor Idealismus und Tatendrang überschäumender, hoffnungslos romantischer Künstler, der am Ende einsehen musste, dass er mit seinem irrationalen Engagement gescheitert war? Der sich mit Dingen auseinandersetzte, die er nicht verstand? Für Rappmann war Beuys im Kern auf jeden Fall ein Künstler: „Alles, was er tat, das WIE, zeugte von seiner künstlerischen Tätigkeit. Er war der Meister der Sozialen Plastik, obwohl er die Gestaltungsmöglichkeiten jedem zuschrieb und sich so mit dem Rest der Gesellschaft auf eine Stufe stellt.“ Seine starke Präsenz lebt in seinen Werken weiter, die immer anregen, sich mit dem von ihm aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen.
Obwohl der Begriff der Sozialen Plastik heutzutage meist nur von Beuys' Anhängern verwendet wird, ist der Ansatz bei vielen zeitgenössischen Künstlern, beispielsweise bei den Relational Aesthetics oder auch bei dem 2010 verstorbenen Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief, enthalten. Teilweise ist er so stark in die Wirklichkeit eingedrungen, dass er gar nicht mehr als Kunst erkannt wird, sei es beim Urban Gardening oder anderen Themen rund um Nachhaltigkeit. „Wie wollen wir leben und unser Leben gestalten“, ist eine immer noch aktuelle Frage. Lasst uns Künstler sein!
Titelbild: hsing_nice / flickr.com
Bilder im Text: Robert Agthe / flickr.com, Valentina Tanni / flickr.com,
acb / flickr.com, Rainer Rappmann