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Professor Dr. Helmut Willke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Global Governance und hat zudem Gastprofessuren in Washington, D.C., Genf und Wien inne. Der studierte Rechtswissenschaftler und Jurist lehrte zuvor in Bielefeld und wurde 1994 mit dem Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willke forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen globale Netzwerke und Steuerungsregime, sowie System- und Staatstheorie.
Ihr Buch handelt von „Regieren als politische Steuerung“. Was ist eigentlich damit gemeint?
Prof. Dr. Helmut Willke: Der Kern dieses Ansatzes ist darin zu sehen, die Problematik des Regierens von der Ebene der Personen auszudehnen auf die Ebene des Systems. Regieren als politische Steuerung meint Systemsteuerung, genauer gesagt Gesellschaftssteuerung. Insbesondere die Massenmedien vermitteln mit Personalisierung und „human interest stories“ ein triviales und einseitiges Bild von Politik und Regieren, das korrekturbedürftig erscheint.
Wo hat sich für Sie die größte Schwierigkeit bei der Analyse und dem Verständnis der Prozesse des Regierens ergeben?
Willke: Die größte Schwierigkeit war und ist, Regieren als Aktivität des Nationalstaates im Kontext zweier fundamentaler gegenwärtiger Herausforderungen neu zu bestimmen – den Herausforderungen einer sich vertiefenden Globalisierung und einer sich bildenden Wissensgesellschaft. Denn eines steht fest: Sie treiben einen Prozess der Revision nationaler Politiken voran, der überfällig ist und der ohne diesen äußeren Druck schwerlich vorankommen würde. Insofern bietet die doppelte Herausforderung durch Globalisierung und Wissensgesellschaft die Chance, über erzwungene Anpassung hinaus die Rolle politischer Steuerung neu zu definieren.
Welche zentralen Aufgaben und Ziele hat jede Form von Regierung?
Willke: Die Aufgabe ist klar und einfach: Die Herstellung der notwendigen, kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Die Ziele sind komplex und schwierig: Es geht weit über die formale Demokratie heute darum, eine Form der Gesellschaftssteuerung zu praktizieren, die über strategische Kompetenz und institutionelle Lernfähigkeit eine nachhaltig balancierte Entwicklung ermöglicht.
Wozu benötigen moderne komplexe Gesellschaften überhaupt Einrichtungen des Regierens?
Willke: Über die traditionellen Aufgaben des Regierens hinaus ist es heute wichtig, systemische Risiken für Menschen, Gesellschaften und Natur zu erkennen und intelligent zu bearbeiten. Das politische System einer Gesellschaft – und damit Regieren – ist die einzige Instanz, die eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung übertragen bekommen hat. Um dieser gerecht zu werden, reichen Maßnahmen auf der Ebene der Personen nicht aus. Vielmehr ist es für adäquates Regieren nötig, Systemdynamiken und emergente Qualitäten komplexer Systeme zu erfassen und politisch bearbeitbar zu machen.
Wieso aber scheinen verschiedenste Ansätze der deutschen Regierung an grundlegenden und komplexen Herausforderungen wie Demografie, Energiewende und Gesundheitssystem zu scheitern?
Willke: Weil die formale Demokratie eine eingebaute massive Präferenz für kurzfristige und populistische Problemlösungen hat. Kurze Wahlperioden und mächtige Interessengruppen wie Banken, Kirchen und Bauern, die von der demokratischen Politik nicht in ihre Schranken verwiesen werden, verhindern eine strategisch auf mittel- und langfristige Ziele ausgerichtete Politik. Dadurch werden Probleme in die Zukunft verlängert und die Kosten ihrer Lösung den nachfolgenden Generationen aufgebürdet.
Was sind die großen globalen Herausforderungen nationalstaatlichen Regierens?
Willke: Alle massiven, schwierigen und komplexen Probleme sind heute globaler Natur, während die zentralen Akteure der Problemlösung Nationalstaaten sind, die in ihrer Steuerungskompetenz an die engen nationalstaatlichen Grenzen gebunden sind. Die Behandlung globaler Probleme – Klimawandel, Ressourcenknappheit, Finanzkrise, Migration, Terrorismus oder Verschmutzung der Ozeane und so weiter – setzt daher eine aufwendige internationale Koordination und Kooperation voraus, die ganz schwer zu realisieren ist. Klar ist: In aller Regel verhindern die egoistischen Partialinteressen der Nationalstaaten eine brauchbare globale Lösung.
Warum tut sich die Politik außerordentlich schwer damit, globale Institutionen aufzubauen und so gestaltend in die Prozesse der Globalisierung einzugreifen?
Willke: Es gibt eine große Zahl globaler Institutionen, von denen einige durchaus mit hoher Reputation erfolgreich arbeiten wie die World Trade Organization (WTO), die World Health Organization (WHO) oder der Baseler Ausschuss. Dies gilt, solange die dominanten Nationalstaaten – etwa die G-20-Staaten – gemeinsame Interessen definieren und sich auf gemeinsame Nenner einigen können. Bei wirklich kritischen Problemlösungsansätzen, die auch nur minimale Einschränkungen nationaler Souveränität bedeuten würden, schlägt die Logik nationalstaatlich organisierter Politik zu. Jeder verfolgt nur noch seine eigenen Interessen, was zur Tragödie der globalen Kollektivgüter führt…
Und was meinen Sie damit?
Willke: All jene Güter, von denen alle profitieren, die ausnahmslos jeder nutzt und von denen niemand ausgeschlossen werden kann wie Klima, Energieressourcen oder Stabilität des globalen Finanzsystems.
Wie kann das Spannungsverhältnis zwischen nationalen und globalen Interessen überwunden werden?
Willke: Nur dadurch, dass von den nationalen Politiksystemen kein Altruismus verlangt, sondern globale Rücksichtnahmen und die Sorge um globale Kollektivgüter in ihrer unmittelbaren Relevanz für nationale Politik deutlich gemacht wird. Globale Interessen müssen in nationale Relevanz überführt werden, um für nationalstaatlich organisiertes Regieren bedeutungsvoll zu werden.
Wie müsste die Zukunft des Regierens aussehen?
Willke: Die wichtigste Veränderung liegt in den Ressourcen des Regierens. Die herkömmlichen Steuerungsmedien der Politik sind Macht und – abgeleitet – Geld. In der beginnenden Wissensgesellschaft kommt als dritter Faktor mit zunehmendem Gewicht die Ressource Wissen und die Expertise von Personen dazu. Regieren muss sich zu „smart governance“ wandeln, um den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen einer globalisierten Welt auch nur annähernd gerecht werden zu können.
Vielen Dank für das Interview!
Titelbild: Terra Nova Foundation / flickr.com
Bilder im Text: Visualizing Friendships / Facebook
World Trade Organization / flickr.com