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Georg Jochum, geboren 1968 in Köln, studierte als Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und schloss sein Studium 1993 mit der ersten juristischen Staatsprüfung ab. Im Jahr 1996 promovierte er zum Thema „Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie“, ein Jahr später folgte die zweite juristische Staatsprüfung, im Jahr 2003 habilitierte Jochum zum Thema „Die Steuervergünstigung“. Nach Tätigkeiten als Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen wurde er im Jahr 2007 zum außerplanmäßigen Professor an der Uni Konstanz ernannt. Im gleichen Jahr wurde Jochum Mitglied in der wissenschaftlichen Kommission der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes.
Helmut Willke, aufgewachsen in Tettnang, studierte Rechtswissenschaft und Soziologie in Tübingen und Köln. Er lehrte seit 1983 Soziologie an der Universität Bielefeld; seit 2002 war er dort Professor für Staatstheorie und Global Governance. 1994 wurde seine Arbeit mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willkes Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Staatstheorie, globale Steuerungsregime und Wissensmanagement. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen zählt eine dreibändige Einführung in die Systemtheorie. Und seine langjährige Beratungserfahrung in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zeigt, dass seine Forschungskenntnisse nicht nur über seine diversen Bücher in die Gesellschaft zurückfliessen.
Lange Zeit galt der Liberalismus als Ideologie des aufstrebenden, für Freiheit kämpfenden Bürgertums. Kernziel war die Auflehnung gegen die Feudalgesellschaft; man wollte politische und ökonomische Einschränkungen nicht weiter hinnehmen. Der Staat soll für Chancen sorgen und den Rahmen für die Entfaltung des Einzelnen setzen, nicht mehr und nicht weniger. Bürgerrechte, freie Marktwirtschaft, freie Entfaltung des Individuums und Eigenverantwortung, die Verteidigung der Zivilgesellschaft gegen jede Form von Autoritarismus – Ziele, die von vielen unterstützt werden. Und doch befindet sich der Liberalismus in einer tiefen Krise: Er ist unbeliebter denn je. Die FDP ist als klassisch liberale Partei zum ersten Mal seit 1949 nicht im Bundestag vertreten. Das löst bei einigen Schadenfreude aus. ZU|Daily sprach mit Prof. Dr. Georg Jochum und mit Prof. Dr. Helmut Willke über die Geschichte und potenzielle Zukunft des Liberalismus, sein mögliches Scheitern und warum er – da sind sich beide einig – immer noch hochaktuell ist.
Neoliberalismus scheint eines der großen bösen Wörter unserer Zeit. Wieso ist die Ur-Ideologie des Bürgertums so in Verruf geraten?
Prof. Dr. Georg Jochum: Das, was unter dem Stichwort Neoliberalismus durch die Diskussion geistert, hat mit Liberalismus eigentlich nichts zu tun. Der Begriff beschreibt eine politisch-ökonomische Denkschule, die aus den Vereinigten Staaten stammt und dort interessanter Weise unter dem Label Neokonservatismus diskutiert wird. Der Neokonservatismus fordert eine Aufhebung von Regulierungen der Wirtschaft und eine Beschränkung des Staates auf die Sicherheit. Dies ist mit den politischen Kategorien Europas nur schwer zu vereinbaren. In den USA ist dies neokonservativ, weil es auf die Gesellschaftsordnung der USA im 19. Jahrhundert zurückgreift, die sehr das Streben des Einzelnen nach individuellem Glück betonte. Das ist am besten als Neoutilitarismus zu bezeichnen. Der Utilitarismus ist aber eine Abwendung vom Liberalismus, sozusagen die Korrumpierung des Besitzbürgertums. Klassischer Liberalismus ist Adam Smith, nicht John Stuart Mill, und ein Neoliberalismus beruft sich auf die Moralphilosophie eines Adam Smith, und nicht auf den Utilitarismus des John Stuart Mill und seiner zweit- und drittklassigen Epigonen.
Prof. Dr. Helmut Willke: Klassischer Fall der Erfindung eines völlig unpassenden Schimpfwortes, das aber in den Massenmedien großen Anklang findet, weil es griffig ist. Passend wäre statt Neoliberalismus der Begriff Marktfundamentalismus. Denn das genau wird dem Neoliberalismus vorgeworfen: eine legitime Dominanz des Marktes gegenüber staatlicher Regulierung und Aufsicht unter der völlig irrigen Annahme, der Markt könne sich selbst regulieren. Streng wörtlich genommen wäre ein Neoliberalismus sogar höchst wünschenswert - nämlich als das Projekt einer Revision des überkommenen „Besser-Verdienenden-Liberalismus“ in Richtung auf einen politökonomisch verantwortlichen und responsiven Liberalismus.
Seit der letzten Bundestagswahl ist keine klassisch-liberale Partei mehr im Bundestag vertreten. Ein Problem für die Republik?
Willke: Nein, nicht solange sich die Liberalen nicht neu erfinden.
Jochum: Wie man‘s nimmt. Der Wähler hat es so gewollt und scheint dies nicht als Problem zu empfinden. Das politische Spektrum hat sich damit aber deutlich in Richtung Sozialdemokratie verschoben. Im Prinzip haben wir nun nur noch mehr oder weniger sozialdemokratische Parteien im Parlament. Neben dem Original existiert eine christliche Variante (CDU/CSU), eine öko-soziale (Grüne) und eine sozialistische (Linke). Im Grunde herrscht damit ein Konsens, dass der Staat durch Umverteilung, insbesondere durch Ausweitung des Sozialstaats, die Bürger beglücken soll. Das geht zu Lasten kommender Generationen und der Zukunftsfähigkeit dieses Landes.
Politische Ideen können aus der Mode fallen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war auch ein Trauma für die radikalen linken Parteien Europas. Die klassischen Ziele des Liberalismus – Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, freie Entfaltung des Individuums, Marktwirtschaft etc. – wurden inzwischen alle mehr oder weniger erreicht. Wozu braucht man den Liberalismus also heute überhaupt noch?
Jochum: Das, was einmal erreicht wurde, muss auch verteidigt werden. Wir sind auf dem besten Wege zu einem paternalistischen Staat, der sich um alles kümmert. Die Freiheit wird schleichend eingeschränkt. Man diskutiert Alkoholverbote, Zuckerverbote etc., weil das ungesund ist. Man will natürlich nur das Beste. Das ist aber keine Freiheit. Die Ausweitung des Sozialstaats gefährdet die Marktwirtschaft, weil die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Wirtschaften, wie Ausbau und Erhalt der Infrastruktur, vernachlässigt werden. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob eine Gesellschaft ihren Bürgern die Chancen zur Selbstverwirklichung im Wettbewerb eröffnet oder die Ergebnisse dieses Wettbewerbs korrigieren will. Letzteres ist die herrschende Vorstellung. Da dies aber die Möglichkeiten des Staates überfordert, werden Freiheit und Wettbewerb eingeschränkt. Dagegen braucht es eine politische Kraft.
Willke: Diese Freiheitsrechte wurden tatsächlich in hohem Maße verwirklicht, aber sie sind immer bedroht. Und sie sind heute unter Bedingungen einer forcierten Globalisierung und einer beginnenden Wissensgesellschaft stärker und hinterlistiger bedroht als früher. Insofern sind die Grundideen des Liberalismus aktueller und relevanter denn je.
Andere politische Parteien machen sich liberale Themen zu Eigen. Egal, ob Grüne, SPD oder Konservative – sie alle wildern in Parteiprogrammen der FPD. Kann dieser Kannibalismus von politischen Themen dazu beitragen, dass keine rein liberale Partei mehr benötigt wird?
Jochum: Das kann ich nicht sehen. Zwar wollen jetzt SPD, Grüne und CDU die FDP beerben, aber ein paar Bekenntnisse zu Bürgerrechten und sozialer Marktwirtschaft machen noch keine liberale Partei. In keiner dieser Parteien sind liberale Positionen mehrheitsfähig. Die SPD meint, es sei liberal, auf Kosten der Zukunftschancen der jungen Menschen ein paar gutverdienende, männliche Facharbeiter vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Die Grünen sind im Prinzip für Freiheit, aber bitte nur, wenn ihr Gebrauch gesund, klimaschonend und politisch-ökologisch korrekt ist. Alles andere ist natürlich verboten. Und die Union meint, es sei liberal, wenn man homosexuellen Paaren ohne jeden rationalen Grund die Gleichstellung verweigert.
Willke: Ich hoffe sehr, dass sie das tun, und zwar in dem Sinne, dass jede demokratische Partei die liberale Idee einer funktional differenzierten Gesellschaft mit weitgehend autonomen und selbststeuernden Funktionssystemen als Basis einer freiheitlichen und „befreiten“, also liberalisierten Gesellschaft versteht. Es wäre der CSU sehr zu wünschen, dass sie z.B. die Trennung von Kirche und Staat ernster nähme, als sie das bislang tut. Das Besondere einer eigenständigen intelligenten liberalen Partei sehe ich darin, dass sie gegenüber den populistischen Verlockungen eines von „den Alten“ dominierten Versorgungsstaates Werte wie Eigenverantwortung, Initiative, Innovation und die nachhaltige Absicherung der Freiheitsrechte überzeugend vertritt.
Herzlichen Dank für das Interview!
Titelbild: Eugène Delacroix / Wikimedia Commons (public domain)
Bilder im Text: Dirk Vorderstraße / Wikimedia Commons (CC BY 3.0);
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