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Martin Tröndle studierte Musik an den Hochschulen Bern und Luzern und Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Ludwigsburg. Von September 2009 bis August 2014 hatte er den Lehrstuhl für Kulturbetriebslehre und Kunstforschung an der Zeppelin Universität inne. Seit September 2014 besetzt er den WÜRTH Chair of Cultural Production.
Tröndle war Mitarbeiter beim Südwestrundfunk, Gründungsmitglied und Manager der Biennale Bern und nach der Promotion beim Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst als Referent für die „Profilierung des Musiklandes Niedersachsen“ tätig. Er ist ständiger Gastprofessor am Studienzentrum Kulturmanagement der Universität Basel und war von 2004 bis 2008 ständiger Lehrbeauftragter am Studiengang design | art & innovation der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Zudem ist er Gründungs- und Vorstandsmitglied des Fachverbandes Kulturmanagement, sowie Gründungsmitglied der Society for Artistic Research.
Tröndle, Martin / Kirchberg, Volker / Tschacher, Wolfgang (2014): Subtle Differences: Men, Women and their Art Reception. Journal of Aesthetic Education, Winter 2014 (48.4), 65-93.
Unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Tröndle untersuchen Kunstpsychologen, Kunstsoziologen, Kuratoren und Theoretiker im Forschungsprojekt eMotion die Erfahrung Museumsbesuch experimentell. Im Zentrum steht die psychogeografische Wirkung des Museums und seiner Objekte auf das Erleben der Museumsbesucher.
Das fängt schon mit der Erwartung an den Museumsbesuch an: Frauen wollen ihr Kunstverständnis vertiefen und sich intellektuell mit den Werken auseinandersetzen. Sie suchen emotionale Erlebnisse, möchten Teil der Ausstellung sein - mit all ihren Gefühlen. Im Gegensatz dazu sind männliche Besucher tendenziell eher einfach gestrickt: Sie wollen vor allem unterhalten werden. Dass sich dieser Wunsch eher beim Action-Film im Kino erfüllt, erklärt vielleicht schon in Ansätzen, warum es generell weniger Männer als Frauen ins Museum zieht. Zudem ist Frauen auch das Was und Wie einer Ausstellung signifikant wichtiger als Männern. Die Kunstwerke an sich - also Thema, Komposition, kunsthistorische Bedeutung - und auch die kuratorischen Aspekte einer Ausstellung – all diesen Kategorien maßen sie in Befragungen mehr Bedeutung zu als ihre männlichen Kollegen.
Zu seinen Forschungsergebnissen, die zeigen, wie unterschiedlich Männer und Frauen Kunst wahrnehmen, ist Kulturwissenschaftler Tröndle eher durch Zufall als aus Absicht gekommen. Ursprünglich war sein erklärtes Forschungsziel, die kunstsoziologischen Modelle von Pierre Bourdieu und Alain Darbel, die in den 1960er Jahren entwickelt wurde und bis heute zu den prominenten Theorien zählen, auf den Prüfstand zu stellen. Für die Studie wurde eigens eine heterogen gestaltete Ausstellung konzipiert, die einen Querschnitt durch 120 Jahre Kunstgeschichte zeigt, mit Werken verschiedenster Machart: Ölgemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Drucke. Tröndle und sein Team sammelten umfangreiche Daten von etwa 600 Ausstellungsbesuchern. Und schon die eben skizzierten Ergebnisse aus der Eingangsbefragung unmittelbar vor dem Museumsbesuch kündigten an, dass sich (nicht nur) die Erwartung an den Museumsbesuch zwischen Männern und Frauen deutlich unterscheiden.
Und wie ist es während des Rundgangs? Welche Werke laden zum Verweilen ein, evozieren am meisten Emotionen? Welche bleiben unbeachtet? Obwohl Tröndle nicht beabsichtigt hatte, eine Studie zu geschlechtsspezifischem Verhalten im Museum zu machen, fand er auch hier wieder klare Hinweise: Zum Beispiel, dass für weibliche Besucher die Informationstafeln zu den Kunstwerken wichtiger waren als für Männer. Das ergab die Befragung. Und die Messung mit dem Datenhandschuh unterstrich das: Frauen nahmen sich durchschnittlich doppelt so viel Zeit für das Lesen der Texttafeln wie Männer. Und während sie an 13 von 14 Infotexten kleben blieben, schauten sich Männer nur 7 davon an und gingen lieber weiter. Offenbar wird ihre Aufmerksamkeit von anderen Dingen geweckt. Im Fall von Tröndles Studie waren das ganz klar die Textkritzeleien aus der Serie „A Label Level“ von Nedko Solakov - sogenannte „Tags“, die der Künstler an verschiedenen Orten der Ausstellung angebracht hatte, zum Beispiel in der Ecke eines Raumes direkt über der Heizung. „Diese invasive Strategie des Künstlers, die dazu dient, Aufmerksamkeit zu bekommen, kann man als männliche Strategie verstehen“, erklärt Tröndle. Etwas deutlicher fügt er hinzu: „Das hat was von sein Revier markieren, oder?“
Bei beiden Geschlechtern kamen während des Ausstellungsbesuchs mehr oder minder intensive Gefühle auf, die der Datenhandschuh über Herzrate und Schwitzen messbar machte. Diese Daten zogen Tröndle und sein Team heran, um mit den Besuchern in der Ausgangsbefragung systematisch über die Kunstwerke zu sprechen, bei denen sie die stärksten Emotionen gezeigt haben. Und auch hier tauchten wieder geschlechtsspezifische Unterschiede auf, die Tröndle so zusammenfasst: „Frauen zeigten sich während des Museumsbesuchs häufiger emotional bewegt und hatten intensivere Gefühle beim Betrachten eines Kunstwerks als Männer. Männer hingegen reagierten gefühlsmäßig öfter negativer und die Kunstwerke lösten Trauer oder Angst aus.“ Vielleicht ein weitere Grund, warum Männer nicht so gerne ins Museum gehen wie Frauen.
Durch Tröndles Messungen mit dem Datenhandschuh mussten die Kuratoren übrigens von einer ihrer Vorannahmen abrücken. In einem der Ausstellungsräume hatten sie einen überdimensionalen weiblichen Akt positioniert - in der Annahme, dass dieses Kunstwerk der Star des Raumes werden würde, und zwar vor allem bei den Herren, die der erotischen Weiblichkeit nicht widerstehen und davon magnetisch angezogen werden würden. Pustekuchen. Die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit und ihr Augenmerk vor allem auf ein eher unscheinbar wirkendes Portrait eines Mannes. Wie die gesamte Auswertung der Wege, Position und Verweildauer der Besucher sowie die Ausgangsbefragung schließlich zeigte, sind beide Geschlechter an Portraits interessiert – allerdings nur von solchen des gleichen Geschlechts. Tröndle erklärt das mit einem hohen Interesse an Selbst-Aktualisierung und Selbst-Identifikation. Und die sei für die Museumsbesucher spannender als das bloße Anschauen eines Aktes.
Um herauszufinden, an welche Werke und Künstler sich die Teilnehmer der Studie Wochen nach dem Ausstellungsbesuch erinnern, führte Tröndle vier Wochen später eine Nachbefragung durch. Und auch hier wieder ein eindeutiges und geschlechtsspezifisches Ergebnis: „ Männer erinnern sich an andere Werke als Frauen. Sie erinnern sich an so unterschiedliche Dinge, als wären sie in zwei verschiedenen Ausstellungen gewesen.“ Beide erinnern sich jeweils an Portraits ihres eigenen Geschlechts. Männer erinnern sich vor allem an Solakov mit seinen Tags. Und Frauen erinnern sich häufiger an kuratorisch bedingte Erlebnisse wie an Einzelheuten der Inszenierung und des Arrangements.
So signifikant die geschlechtsspezifische Rezeption im Museum ist, mit zunehmendem Alter verblassen die Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Kunstrezeption übrigens. Ältere Museumbesucher suchen überhaupt nicht nach Unterhaltung, skizziert Tröndle. „Sie wollen kein Tohuwabohu, keine Multimedia-Ausstellung, keine wilde Performance, sondern die Ruhe im Museum genießen und ihr Wissen erweitern.“ Zudem habe die Studie gezeigt, dass sich bei älteren Ausstellungsbesuchern ein gewisser Alltags-Konservatismus entwickelt: „Die Leute wollen etwas sehen, das sie schon kennen. Und sie wollen Werke berühmter Künstler sehen“.
Mit sieben Zwischenüberschriften ist dieser Artikel ausgestattet. Fünf von ihnen beschreiben geschlechtsspezifische Aspekte der Kunstrezeption, Erwartungen an Kunst oder Erinnerungen daran, die Tröndles in mit seiner Studie empirisch belegt. Für Kritiker könnten die herausgearbeiteten Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Besuchern einen sexistischen Beigeschmack haben und ja, Tröndle gibt zu, dass er sich solchen Vorwürfen schon stellten musste. Der Kulturwissenschaftler bleibt aber gelassen. Nein, er hatte nicht die Absicht, geschlechtsspezifische Stereotype in die Köpfe zu pflanzen. Mit Sexismus habe seine Arbeit auch nichts zu tun. Die Unterteilung in Männer und Frauen sei eine Grundkategorie in sozialwissenschaftlichen Studien. Und seine Forschungsergebnisse basieren auf den Selbstaussagen der Besucher sowie den gemessenenen körperlichen Reaktionen. Zudem, argumentiert Tröndle, sei die Gender-Debatte in der Kunst bislang stark normativ geprägt gewesen: „Sie orientiert sich mehr daran, was sein sollte und weniger daran, was tatsächlich ist. Und das, was ist, dazu gab es bislang kaum empirische Forschung.“ Vielleicht also bringen die Erkenntnisse aus der Studie etwas frischen Wind in die Gender-Debatte.
Für Museen dürften die Ergebnisse der Studie ebenfalls von praktischem Nutzen sein. Kuratoren beispielsweise könnten künftig dem hohen Anteil weiblicher Museumsbesucher besser gerecht werden, indem sie stärker auf Information setzen oder die Ausstellung nach weiblichen Präferenzen gestalten. Will man Männer in eine Ausstellung locken, muss man diese unterhalten.
Titelbild: eMotion
Bilder im Text: eMotion; Kunstmuseum St. Gallen