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Cem Özdemir – geboren kurz vor Weihnachten 1965 im baden-württembergischen Urach – ist seit 2008 Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Bereits 1981 trat er in die Partei ein – seine deutsche Staatsbürgerschaft erhielt er als Sohn türkischer Einwanderer mit seiner Volljährigkeit. Nach baden-württembergischen Landesvorstand und Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag von 1994 bis 2002 wurde er schließlich 2008 Parteivorsitzender. Dieses Amt hat er noch heute inne. Nachdem er von 2004 bis 2009 im Europaparlament gesessen hat, konnte er 2013 erneut in den Deutschen Bundestag einziehen, wo er bis heute über fast alle Themen der politischen Agenda – von Umweltschutz in China bis zur Finanzkrise in Griechenland – eifrig diskutiert.
Internationale Politik greifbar machen – mit dieser Vision gründete sich der Club of International Politics e.V. am 8. September 2010 auf Initiative von Studierenden der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
Die Ursprünge des Vereins liegen in einer gemeinsamen Leidenschaft für Model United Nations-Konferenzen (MUN) und dem Wunsch, dieses Interesse an der Universität zu bündeln und zu fördern. Nach der Entsendung einer ersten Delegation zur New York MUN 2010 entstand die Idee, die Begeisterung für internationale Politik durch die Gründung eines Vereins stärker an der Universität zu verankern.
Als gemeinnütziger, eingetragener Verein zählt der CIP inzwischen mehr als 200 Mitglieder und konnte sich mit zahlreichen Veranstaltungsformaten als Plattform im Diskurs über internationale Politik etablieren. Ziel ist es, interessierten Studierenden, Schülern und Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich über internationale Fragestellungen zu informieren und ihr Wissen über politische wirtschaftliche und kulturelle Institutionen und deren Zusammenhänge zu vertiefen – Themen, die in Zeiten einer fortschreitenden globalen Vernetzung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dabei hat der Verein sich den Grundsätzen der Überparteilichkeit und Unabhängigkeit verschrieben. Mit Hilfe eines breiten Veranstaltungsportfolios möchte er einen Beitrag zur politischen Bildung in der Bodenseeregion leisten.
Cem Özdemir hat Wahlkampfhusten. Die Stimme knarzt beim Sprechen, unzählige Reden nagen an der Gesundheit. Kein Wunder, denn mit großen Schritten nähren sich die Wahlkämpfe in gleich drei Bundesländern dem Ende. Nach FDP-Parteichef Christian Linder ist kein anderer Polit-Promi so viel unterwegs wie Özdemir. Obwohl er seit Stunden mit dem Grünen Landtagsabgeordneten Martin Hahn die Werbetrommel für dessen Wiederwahl rührt, gelingt es ihm beim Zwischenstopp an der Zeppelin Universität, die Wahlkampfstimmung mit seinem Mantel an die Garderobe zu hängen. Auf Einladung des studentischen Club of International Politics e.V. kämpft sich Özdemir stattdessen durch die tiefen Fahrwasser der deutschen Außenpolitik, analysiert die aktuelle innenpolitische Situation in der Türkei und zeigt Perspektiven für einen gemeinsamen, europäischen außenpolitischen Kurs in Migrationsfragen und gegenüber anstrengenden Verhandlungspartnern.
Hart urteilt er über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und rügt ein fehlendes Bekenntnis der Bundesregierung zur politischen Opposition in der Türkei. Özdemir gilt als Fachmann für die schwierigen Beziehungen zur Türkei – noch kurz vor seinem Auftritt verglich er im Deutschlandfunk Erdogan mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin. Austeilen kann der Grüne Bundesvorsitzende, es liegt ihm im Blut. Sein Vater stammt aus einem Dorf bei Tokat in der Türkei, gehört der tscherkessischen Minderheit an. 1961 kommt er als Gastarbeiter nach Deutschland, landet in einer Textilfabrik im Schwarzwald. Seine Mutter folgt 1964 als junge Lehrerin, ein Jahr vor Özdemirs Geburt, aus einem fortschrittlichen Istanbul – „das man heute so nicht mehr kennt“, sagt Özdemir. Ihr erstes Kopftuch sah sie nach ihrem Umzug auf die Schwäbische Alb. Sie wolle doch gar nicht nach Anatolien, soll sie damals gesagt haben.
Özdemir selbst nennt sich „deutscher Staatsbürger mit türkischer Herkunft“ – noch näher als das Deutsche sei ihm nur das Schwäbische, sagt er 1997. Gemeinhin würde man ihn wohl einen „Vorzeigetürken“ nennen – mit 16 Jahren tritt er den Ludwigsburger Grünen bei, absolviert nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Erzieher, holt das Abitur nach und studiert Sozialpädagogik in Reutlingen. Innerparteilich steigt er in den Landesvorstand Baden-Württembergs auf, gründet das Bündnis „ImmiGrün“ und wird 1994 erster Bundestagsabgeordneter mit türkischen Eltern. Doch immer wieder stolpert Özdemir auch. 2002 wird die private Verwendung dienstlicher Flugmeilen bekannt, die ihn erst zum Rücktritt als innenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag bewegt und schließlich zur eigenen Ablehnung seines frisch erkämpften Bundestagsmandats führt. 2004 lässt er sich stattdessen ins Europaparlament wählen, will 2009 zurück in den Bundestag, doch scheitert ohne Listenplatz im Kampf um ein Direktmandat in Stuttgart gegen einen starken Stefan Kaufmann von der CDU. Trotzdem kämpft sich Özdemir an die Spitze des Bundesvorstandes seiner Partei und kehrt 2013 als baden-württembergischer Spitzenkandidat in den Bundestag zurück.
Bei unangenehmen Themen nicht locker zu lassen und in Verhandlungen zu kämpfen, das hat ihn seine politische Laufbahn zweifelsohne gelehrt. Kämpfen will er auch 2016 wieder auf der internationalen politischen Bühne – gegen Fluchtursachen und die Unterdrückung von Grundfreiheiten, für Integration und ein vielfältiges und starkes Europa. Wie er diesen Kampf ausfechten will, hat er Florian Gehm im Interview verraten.
Sie haben viel über internationale Verhandlungspartner berichtet. Da gibt es einige, die nicht gerade pflegeleicht sind – ob Erdogan, Putin oder Orban. Wie verhandelt man mit diesem Typ Politiker?
Cem Özdemir: Man kann sich seine Gesprächspartner nicht immer aussuchen – aktuell gilt das auch für Recep Tayyip Erdogan in der Flüchtlingsfrage. Aber ich würde mir trotzdem verstärkt wünschen, dass man die schwierigen Themen nicht einfach hinten runterfallen lässt. Und dazu zählt dann auch, dass man über das Thema Pressefreiheit in der Türkei reden muss, über die Kurdenfrage, über Demokratie und Meinungsfreiheit. Und genau das passiert mir aktuell zu wenig – und macht aktuelle Verhandlungen eben sehr schwer.
Trotz dieser vielen Meinungsfreiheiten ist die Türkei aber ein wichtiger Verhandlungspartner. Nicht ohne Grund hieß der Titel der Veranstaltung mit Blick auf die Migrationspolitik „Türsteher Türkei“. Doch die Türken können und sollen nicht alle Flüchtlinge aus Europa aussperren. Trotzdem reden wir in Deutschland ständig aufgeregt vor allem über Zahlen. So kann Integration doch nicht funktionieren?
Özdemir: Zur Integration gehört erstmal, dass man so schnell wie möglich Deutsch lernt. Es gehört dazu, dass man einen Integrationskurs absolviert, damit man auch etwas über die Gesellschaft lernt, in der man lebt. Schließlich können wir nicht erwarten, dass sich jeder sofort in Deutschland auskennt – viele kommen aus Ländern, die keine Demokratien sind. Und es gehört natürlich auch dazu, dass man so früh wie möglich in die Arbeitswelt kommt. Je schneller man im Betrieb ist, umso schneller lernt man neue Leute kennen, schließt Freundschaften und findet sich im Land zurecht. Ich würde das übrigens auch machen bei denen, die nicht unbedingt von vornherein eine hohe Bleibe-Perspektive haben. Es schadet niemanden, wenn er Deutschland kennenlernt und wenn er auch dann, wenn er vielleicht wieder gehen muss, etwas von hier mitnimmt.
Bei einer Veranstaltung der Friedrichshafener Sozialdemokraten ging es kürzlich darum, ob nicht auch Deutschland eine Mitschuld an der Produktion von Fluchtursachen trägt – nämlich dann, wenn wir Länder wie Saudi-Arabien mit Waffen beliefern.
Özdemir: Wir kritisieren das sehr scharf, dass die Große Koalition Waffen nach Saudi-Arabien verkauft, mit denen dann beispielsweise das Nachbarland Jemen dem Erdboden gleich gemacht wird. Genauso sagen wir aber auch, dass EU-Agrarsubventionen für den Export falsch sind, die dazu führen, dass Märkte in Afrika kaputtgemacht werden. Und auch das Leerfischen mit Hochseeflotten in den westafrikanischen Meeren sorgt nicht dafür, dass die Fischer ihre Existenzgrundlagen behalten können. Und nicht zuletzt nach dem Pariser Klimagipfel hat meiner Meinung nach jeder mitbekommen, wie wichtig das Thema Klimaschutz zur Fluchtursachenbekämpfung ist, wenn wir nicht noch zusätzlich über Dürren und Ernteausfälle weitere Flüchtlingswellen auslösen wollen. Also ist es wichtig, dass man an die Flüchtlingsfrage nicht nur innenpolitisch herangeht, sondern eben auch sieht, welche Rolle wir als Europäer und als Deutsche bei der Bekämpfung von Fluchtursachen haben.
Gerade in den aktuellen Landtagswahlkämpfen gibt es aber eine Partei, die ganz explizit mit den Sorgen und Ängsten der Deutschen vor der aktuellen Flüchtlingsfrage auf Stimmenfang geht. Studierende der Zeppelin Universität haben kürzlich bei einem Tee mit den Besuchern einer Veranstaltung der Alternative für Deutschland diskutiert – wie hätten sie dabei versucht, diesen Menschen ihre Ängste zu nehmen?
Özdemir: Indem ich ihnen sagen würde, dass man über alles reden kann. Dass man Ängste, Sorgen und Nöte hat, ist ja nichts Unanständiges. Wenn man aber pauschal Menschengruppen verunglimpft oder aber Gewalt nicht ausschließt oder gar befürwortet, ist eine klare Brandmauer erreicht. Und an dieser Stelle muss man im Gespräch auch unzweideutig sein. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass man über ‚die‘ Deutschen oder ‚die’ Christen spricht und umgekehrt würde ich es mir auch wünschen, dass man nicht über ‚die‘ Flüchtlinge oder ‚die‘ Muslime redet. Wenn das alle so machen, dann wären wir schon mal einen großen Schritt weiter auf dieser Erde.
Mit Menschen zu reden, ist einfacher, als sich mit Institutionen oder Ideen zu unterhalten. Trotzdem müssen wir vielleicht einmal mit Europa reden. Denn nach dem Schengen-Abkommen und der Währungsunion fehlt der Europäischen Union heute ihre integrative Power. Welche große Integrationsidee würden wir heute brauchen?
Özdemir: Jetzt aktuell geht es auch im Hinblick auf die Aufnahme von Flüchtlingen darum, dass wir als Europäer gemeinschaftlich schauen müssen, wie wir beispielsweise diese Aufnahme schaffen können und dafür Institutionen und Mechanismen bauen. Aber nochmal: Das wird alles Stückwerk bleiben, wenn wir es nicht auch als Europäische Union schaffen, eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln – aktuell zum Beispiel im Umgang mit Nordafrika. Wenn wir als Europäische Union mit einer halben Milliarde Menschen im Rücken eine Art Marshall-Plan für Nordafrika auflegen würden, wozu gehört, dass die Jugendlichen dort Ausbildungschancen bekommen, dass unser Duales System exportiert wird, dass wir die Entwicklung von Frauen fördern und dass wir das, was wir beispielsweise in Marokko mit der Solarfabrik machen, ausweiten, dann wird sich nichts an der momentanen Situation ändern. Dann werden die Jugendlichen, wenn sie nicht zu uns kommen können, sich im schlimmsten Fall dem Islamischen Staat anschließen. Und das ist ja wohl kaum besser.
Titelbild & Bilder im Text:
| Florian Gehm / zu-daily.de
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm