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Roderich Kiesewetter, 1963 in Baden-Württemberg geboren, trat 1982 in den Dienst der Bundeswehr ein, wo er bis zum Oberst aufstieg. 2009 wurde er als Direktkandidat für die CDU in den Bundestag gewählt. Kiesewetter ist Mitglied und seit 2014 Obmann im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Neben seiner Tätigkeit im Bundestag war er zudem von 2011 bis 2016 Präsident des Reservistenverbandes.
Das neue Weißbuch wurde – mit zehnjährigem Abstand – in diesem Jahr veröffentlicht. Inhaltlich befasst sich das Werk nicht nur mit der sicherheitspolitischen Lage, sondern auch mit Ausstattung, Personal und Aufgaben der Bundeswehr. Laut Roderich Kiesewetter, Mitglied des Bundestages für die CDU und selbst Oberst a.D., war es auch höchste Zeit, ein neues Strategiepapier auf den Weg zu bringen – worüber er beim GlobalTalk des Club of International Politics e.V. debattierte.
Während im Wahlkampf 2013 außenpolitische Themen stark ausgeklammert wurden, kann heute in Zeiten wachsender internationaler Konflikte und Krisenherde davon nicht mehr die Rede sein. „2013 schafften es die Parteien, einen fast ausschließlich innenpolitisch fokussierten Wahlkampf durchzuziehen und Konflikte wie den NSA-Skandal und Syrien beiseite zu lassen – statt äußerer drehte es sich um innere Sicherheit: Rente, Mindestlohn, Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als reiches Land wurde geschaut, wo man Geld investieren kann – und die meisten Versprechungen der Koalition sind in die Tat umgesetzt“, so Kiesewetter. Nun müsse sich der sicherheitspolitische Blick wieder nach außen wenden – in Richtung Syrien, Libyen, Naher Osten, Ukraine, aber auch in Richtung EU, die wohl gerade eine ihrer schwersten Krisen seit ihrer Gründung durchläuft.
Bereits im Frühjahr 2014 begannen einige schwelende Konflikte unter der Kruste hervorzubrechen: Der Zerfall der Ost-Ukraine, die Besetzung der Krim, der Bürgerkrieg in Syrien, der zunehmende Zerfall Libyens. Das Weißbuch von 2006, das vornehmlich auf friedliche Entwicklungszusammenarbeit zurückgreift, passte schlichtweg nicht mehr zu den aktuellen Entwicklungen – auch Aspekte wie Prävention und Frühwarnung mussten gestärkt werden. Das Weißbuch von 2006 sei damit einfach nicht mehr aktuell gewesen, sodass das Verteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für Entwicklung an neuen Leitlinien schrauben musste. Nichtsdestotrotz spielen Wirtschaft und Zusammenarbeit eine nicht minder wichtige Rolle – und sollten sich dabei an den von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals für 2030 ausrichten und auf Nachhaltigkeit abzielen.
Auch die Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sei ein wichtiger Ansatzpunkt. „Das Zwei-Prozent-Ziel kann nicht unsere einzige Messzahl sein“, so Kiesewetter. Denn wenn man sich in Europa umsehe, erreiche kaum ein Land diese Kennzahl. Griechenland schaffe es zwar, mehr als zwei Prozent seines BIP in Rüstung zu investieren, die neu erworbene Ausrüstung sei aber veraltet und bringe kaum Fortschritte. Somit seien die Ausgaben allein kein eindeutiger Faktor bezüglich der Modernität einer Armee. Zurzeit sei Deutschland lediglich in der Lage, eigene Staatsbürger zu sichern, „aber eine alleinige Operation kann ausgeschlossen werden“.
Vor allem im Zuge neuer Herausforderungen wie den US-Wahlen und dem wahrscheinlich damit verbundenen niedrigeren Beitrag für die NATO – schließlich schultere die USA ungefähr 80 Prozent der gemeinsamen Verteidigungslast bei hoher Verschuldung – muss ein Umdenken angestoßen werden, welches zu einer Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit führt.
Derzeit sind ungefähr 3.500 Soldaten an 16 Orten im Einsatz – und laut Kiesewetter „kommt die Bundeswehr bei einer Aufstockung oder gar Landesverteidigung relativ schnell an ihre Grenzen. Bei einer Gruppenstärke von 180.000 könnten maximal 40.000 in einen Einsatz gebracht werden.“ Eine jahrelange Unterfinanzierung hat nicht nur die Vorräte der Bundeswehr einschrumpfen lassen (es mangelt beispielsweise deutlich an Munition), sondern, auch wenn es zwar eine Breite an Fähigkeiten gebe, fehle Tiefe und Nachhaltigkeit.
Die Bundeswehr müsse 7 Milliarden pro Jahr ausgeben, um ihre Ausrüstung in einem 30-Jahre-Zyklus zu erneuern. Da aber viel zu viel vom Budget für Attraktivitätssteigerungsprozesse, Personal und Verwaltung aufgewendet werde, klappe dies zurzeit nicht. Wichtig sei eine Zusammenlegung, um auf einem aktuellen Stand zu bleiben.
„Deutschland jetzt in eine Führungsrolle zu drängen, wäre fatal“, meint Kiesewetter. Vielmehr sehe er Deutschland in der Pflicht, noch enger mit den (europäischen) Partnern zusammenzuarbeiten. Würde Deutschland in eine alleinige Führungsrolle gedrängt, würde es schnell an seine Grenzen stoßen – viel wichtiger sei „eine handlungsfähige EU mit deutscher Führung aus der Mitte – einer Führung aus Partnerschaft mit gemeinsamen Impulsen“, laut Kiesewetter. Deutschland solle wieder in seine Rolle als „Anwalt der Kleinen“ zurückfinden, dabei aber auch nicht „die Großen“ außen vor lassen. „Deutschland muss klarmachen, dass eine europäische Sicherheit nur zusammen funktioniert – mit Regionalkenntnissen und Nischenfähigkeiten sowie Spezialisierungen“, so Kiesewetter – jeder müsse dabei eingebunden werden, ein vernetztes Europa sei entscheidend.
Sollte es zur Notwendigkeit eines internationalen Einsatzes in einem Krisengebiet kommen, müsse Deutschland stets auf ein rechtlich verbindliches Mandat pochen – und ansonsten den Einsatz verweigern. „Man darf nicht mehr auf unzutreffende Beweise wie die der USA vor dem Irak-Krieg hereinfallen“, sagt Kiesewetter. Vielmehr müsse man aus gemachten Fehlern – insbesondere im Nahen Osten – lernen: „An die Stelle westlicher Interventionspolitik muss eine Mischung aus langsamen Umbau und vor allem Wiederaufbau werden. Man kann nicht einfach Führungsschichten geschlossen absetzen, weil die Bürger kein ausreichendes Know-how besitzen. Erst wenn sie dies erlangt haben, kann ein funktionierender Apparat aufgebaut werden, um ein Land dauerhaft zusammenzuhalten und nicht für eine Radikalisierung und Aufspaltung der Bevölkerung zu sorgen.“ Jeglicher Einsatz müsse somit gleichzeitig in die Entwicklung eines Landes eingebunden werden, um Sicherheit und Stabilität zu schaffen – als Bedingung für Frieden.
Vielmehr müsse sich die Diskussion in Zukunft um eine Harmonisierung und dauerhafte strukurelle Zusammenarbeit innerhalb der EU drehen. Zwar werde ein europäisches Weißbuch von Mitgliedstaaten immer wieder verhindert – dennoch müsse eine Strategiefähigkeit der EU dringend hergestellt werden. Noch gebe es 27 Einzelinteressen, 60 verschiedene Arten von Lkw, zig unterschiedliche Panzertypen. „Um eine Operabilität herzustellen und die Kommunikation zu verbessern, ist es dringend notwendig, dass eine innereuropäische Harmonierung des Rüstungsmarktes eintritt“, unterstreicht Kiesewetter. „Das Ziel muss sein, sich auf einen Typen gemeinsam zu einigen, damit alle auf eine logistische Leistungskette zurückgreifen können und damit einhergehend Kosten gesenkt werden. Die EU muss es schaffen, nationalstaatliche Einzelinteressen zu synchronisieren und auf ein Ziel auszurichten.“ Damit einher ginge auch eine Vereinheitlichung der Beschaffungsrhythmen, neue Systeme sollten zeitgleich erworben, Best-Practice-Modelle gemeinsam angeschafft werden – um eine Interoperabilität und Kommunikation untereinander zu kreieren. Und Kiesewetter sieht den Beginn einer Phase der Harmonisierung bereits 2019, denn dann „soll ein eigener Verteidigungshaushalt zur Harmonisierung, Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehen“. Sicherlich dürfe dabei auch Großbritannien als Atommacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat als Kooperationspartner berücksichtigt werden.
Nach was für einem Europa sehnt sich Kiesewetter? „Wir müssen die Glaubwürdigkeit der europäischen Sicherheitspolitik erhöhen, wir müssen zeigen, dass die EU mehr kann als Leuchten oder Früchte zu regulieren, wir brauchen eine EU, die einen Nachtwächter-Charakter hat, eine EU, in der die Menschen beruhigt schlafen können, weil sie sich nicht um ihre innere und äußere Sicherheit sorgen müssen.“ Besonders in Zeiten europakritischer Bewegungen sei ein Zusammenhalt unabdingbar. Allerdings glaubt Kiesewetter kaum an eine schnelle Aufstellung einer EU-eigenen Armee: „Es mangelt nicht nur an der Bereitschaft, andere über seine eigenen Streitkräfte entscheiden zu lassen. Beispielsweise erkennt das Bundesverfassungsgericht das EU-Parlament auch nicht als legitimes Parlament an (welches Entscheidungen über Kriegseinsätze fällen könnte), da der Gleichheitsgrundsatz durch die Überrepräsentation kleiner Staaten verletzt wird.“
Titelbild:
Henry Mühlpfordt / flickr.com (CC BY-SA 2.0), Link
Bilder im Text:
| Dirk Vorderstraße / flickr.com (CC BY 2.0), Link
| Bundeswehr / Pressebilder
| Bundeswehr / S.Wilke - Flickr / Panzergrenadiere, CC BY 2.0, Link
| Florian Gehm / Zeppelin Universität (Club of International Politics e.V.)
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann