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Anna Lena Robra kommt gebürtig aus Bingen am Rhein und ist für ihr duales Bachelorstudium 2013 nach Berlin gezogen. Heute lebt sie in der Industriehochburg Stuttgart, wo sie für ein multinationales IT- und Beratungsunternehmen im Bereich der Digitalisierung arbeitet. Berufsbegleitend absolviert sie seit 2016 an der Zeppelin Universität den „Executive Master of Arts in Digital Pioneering | eMA DIP“. Neben Themen wie Entrepreneurship und technologische Trends interessiert sie sich besonders für historische Entwicklungen und unterschiedliche Kulturen.
Fehlerkultur umreißt eine Kultur, „in der man sich offen zu Fehlern bekennen kann, um aus ihnen zu lernen und sie in Zukunft zu vermeiden“, so Gerd Gigerenzer, anerkannter deutscher Psychologe. Den Hang zu einem „Trial and Error“-Vorgehen verbunden mit einer geringen Scheu vor dem Begehen von Fehlern sieht er als einen der großen Vorzüge der amerikanischen Kultur. Gigerenzer geht sogar einen Schritt weiter und proklamiert: „Wir müssen durch Misslingen lernen, oder es wird uns misslingen zu lernen.“
Fehler scheinen also eine katalysierende Wirkung auf den menschlichen Lernprozess zu haben, was sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene einen immensen Vorteil darstellt. Das Individuum betreffend, konnte in der Neurowissenschaft nachgewiesen werden, dass sich das menschliche Gehirn durch das Begehen eines Fehlers erweitert: Beim Analysieren und Verarbeiten des Fehlers werden neue Nervenbahnen und Synapsen gebildet, die uns nachweislich reifer werden lassen. Unternehmerisch gesehen, sind Misserfolge deswegen manchmal hilfreicher als reine Erfolge, weil Misserfolge detailliert aufgearbeitet werden – Erfolge dagegen werden oftmals nicht auf ihre Ursache hin analysiert, sodass ein Lernvorgang ausbleibt. In einer sich ständig verändernden Welt mit immer kürzeren Innovationszyklen entscheidet effizientes Lernen jedoch oftmals über „Leben und Tod“ eines Unternehmens – eine Erkenntnis, der sich das Silicon Valley bereits lange angenommen hat. Doch inwieweit wird eine positive Fehlerkultur schon in einem typisch deutschen Arbeitsumfeld gelebt?
Als Mitarbeiterin eines multinationalen IT- und Beratungsunternehmens im Raum Stuttgart, dessen Firmenhauptsitz sich wiederum im US-Bundesstaat New York befindet, kommt es regelmäßig zu Situationen, in denen das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen spürbar wird. Die übergreifenden Unternehmenswerte, welche vor zehn Jahren innovativ in einer globalen Jamsession neu definiert wurden, orientieren sich zwar vornehmlich an amerikanischen Werten und sollen Kundenzentriertheit, Kreativität und Teamspirit in den Vordergrund stellen. Eigenen Beobachtungen zufolge haben jedoch ebenso typisch deutsche Werte wie individuelle Leistungsorientiertheit oder Risikovermeidung starken Einfluss auf die Arbeitsweisen der Mitarbeiter vor Ort.
Zudem beruhen kulturelle Gegebenheiten des direkten Umfeldes auf gewissen Besonderheiten der Geschäftseinheit, welcher man in der Organisation angehört – in dem persönlichen Fall handelt es sich um einen Teilbereich, der die Digitalisierung des Unternehmens vorantreibt. Nun entsteht vermutlich die Annahme, dass in einer solchen, sich mit neuen, modernen Themen befassenden Einheit eine Start-up-ähnliche Subkultur entstehen könnte.
Näher betrachtet wird ersichtlich, dass eine Annäherung an Werte aus dem Silicon Valley momentan sehr stark forciert wird – das Ziel, eine positive Fehlerkultur zu fördern, kann bis dato jedoch nicht erkannt werden. Auch wenn das Entwickeln neuer digitaler Ansätze zwar „Trial and Error“-Herangehensweisen erfordern, werden Fehler grundsätzlich eher missbilligt, wenn nicht gar versucht, zu verheimlichen. Es finden viele „Best Practice Sessions“ statt, in denen Erfolgsstrategien geteilt werden, über Fehlversuche und deren Ursachen wird jedoch nicht gesprochen. Gerade im Vertrieb werden Mitarbeiter letztlich nur bei erfolgreichem Verkaufen entsprechend incentiviert. Noch dazu verbucht das Unternehmen seit vielen Quartalen Umsatzrückgänge, sodass eine gesunde Risikobereitschaft von Managern defensiven Entscheidungsfindungen gewichen ist. Wie kann in einem solchen Umfeld nun eine Fehlerkultur etabliert werden?
Wie der zweite Wortbestandteil bereits vermuten lässt, greift das Etablieren einer Fehlerkultur tief, nämlich bei einer Veränderung der eigentlichen Unternehmenskultur. Nach Edgar Schein lässt sich diese in drei Schichten einteilen: Sichtbare Vermittlungsmechanismen und Ausdrucksformen (erste Ebene) zusammen mit Werteorientierungsmustern und Programmen (zweite Ebene) führen durch einen Interpretationsprozess zu dem kulturellen Kern einer Organisation – den tief verwurzelten Grundannahmen aller Mitglieder (dritte Ebene). Auch wenn die Veränderbarkeit von der ersten bis zur dritten Ebene abnimmt, so muss jede bei dem Versuch, eine Fehlerkultur zu fördern, berücksichtigt werden. Angelehnt an Amy Edmondson könnten konkrete Maßnahmen für ein Arbeitsumfeld wie das eigene deswegen wie folgt kategorisiert werden:
In vielen Kulturen sind „Fehler“ und „Verschulden“ eng miteinander verbunden, was daraus resultiert, dass Fehler grundsätzlich als etwas Schlechtes gesehen werden – das heißt sobald man gesteht, einen Fehler begangen zu haben, wird man in dem Moment auch zum Schuldigen. Das wiederum hemmt Menschen, Fehler öffentlich oder bei ihren Vorgesetzten zu melden. Um dem entgegenzuwirken, sollten Unternehmen Fehler näher bestimmen und klarstellen, dass nicht jeder Fehler per se schlecht ist. Nur die Minderheit aller begangenen Fehler ist tatsächlich tadelnswert – das wären zum Beispiel solche, die in Routineabläufen passieren und eigentlich vermeidbar sind – das Einführen von Checklisten stellt eine Möglichkeit dar, diese Art von Fehlern zu verringern.
Eine viel größere Anzahl an organisationalen Fehlern lässt sich auf System- oder Prozesskomplexitäten zurückführen. Komplexe Systeme – bestehend aus vielen interagierenden Elementen – rufen oft dann Fehler hervor, wenn es zu Veränderungen im gewohnten Umfeld kommt. Diese Fehler sind in ihrer Wurzel unvermeidbar. In derartigen Situationen jedoch Schuldzuweisungen vorzunehmen, würde die Ursache des Fehlers verkennen und ist darüber hinaus kontraproduktiv. Hier gilt es, einzelne Fehler früh zu erkennen und eine längere Verkettung derer zu verhindern. Eine dritte Art von Fehlern verkörpern beispielsweise zunächst ungewollte Ergebnisse von Versuchen oder Experimenten – man könnte sie als ein „intelligentes Nebenprodukt“ bezeichnen, welches absolut nicht tadelns-, sondern vielmehr lobenswert ist.
Ein wichtiger Grundstein für das Festigen einer positiven Fehlerkultur kann also durch das Definieren von verschiedenartigen Fehlern gelegt werden. Hierbei sollte ein Arbeitgeber von Anfang an darauf hinweisen, welche Arten von Fehlern in unterschiedlichen Tätigkeitsausübungen auftreten können und ob sie tendenziell als hinderlich oder aber als förderlich für das eigene Unternehmen eingestuft werden.
Die folgerichtige Maßnahme eines Unternehmens nach der grundlegenden Fehlerdefinition wäre dann ein entsprechendes institutionalisiertes Berichtssystem zu implementieren, sodass Fehler eben nicht vertuscht werden, sondern eine ihnen gebührende Wichtigkeit erfahren. Um Mitarbeiter aber zu ermutigen, Fehler proaktiv zu melden, muss ein Umfeld psychologischer Sicherheit gewährleistet sein – eine Voraussetzung, die schon am kulturellen Kern einer Organisation ansetzt und deswegen nicht kurzerhand aufgezwungen werden kann.
An dieser Stelle muss sich an tiefliegenden Grundannahmen etwas verändern, die in vielen Unternehmen besagen, dass kommuniziertes Scheitern mit Bestrafung einhergeht und dadurch Angst vor einem entsprechenden Bekenntnis auslöst. Besonders effektiv ist hier ein transparenter Umgang mit Fehlentscheidungen oder -versuchen von den Führungskräften selbst, deren Handeln einen vorbildhaften Charakter für die Mitarbeiterschaft hat. Ebenso müssen die Reaktionen auf eine Fehlermeldung fundamental korrigiert werden: Derjenige, der ein Misslingen meldet, darf nicht als „Überbringer schlechter Nachrichten“ gesehen werden, sondern sollte vielmehr für seinen Mut zur Transparenz – und der damit einher gehenden Möglichkeit für die Organisation daraus zu lernen – belohnt werden. Zumindest aber sollte er sich sicher fühlen können, ehrlich über Erfolge wie auch Misserfolge zu kommunizieren.
Sobald ein Fehler festgestellt wurde, ist es wichtig, über die offensichtlichen und oberflächlichen Gründe hinaus systematisch die zugrunde liegenden Ursachen zu verstehen. Dabei ist es die Aufgabe der Führungskräfte, ein schnelles Übergehen von organisationalen Fehlern zu verhindern und stattdessen eine umfangreiche Auseinandersetzung anzuregen und zu unterstützen. Diese erfordert nämlich Zeit und entsprechende Instrumentarien, um mithilfe gründlicher Analysen sicherzustellen, dass die richtigen Lektionen gelernt werden – neudeutsch auch „Lessons Learned“ genannt. Diesen „äußeren Barrieren“ gliedern sich zusätzlich „innere Herausforderungen“ in Form von emotionalen Reaktionen an. Eigene Fehleranalysen tragen nicht gerade zur psychologischen Steigerung des Selbstwertgefühles bei, weshalb viele Menschen nicht genügend Disziplin für eine differenzierte, in die Tiefe gehende Untersuchung aufbringen.
Außerdem bedarf es einer Kultur, die Offenheit, Geduld und Toleranz für kausale Mehrdeutigkeit aufweist, da in komplexen Wirkspielen nicht immer eindeutige Ursachen identifiziert werden können. Typischerweise begrüßen Manager jedoch Attribute wie Entschlossenheit, Effizienz und konsequentes Handeln – nicht nachdenkliche Reflexion. Eben deswegen sind die Betrachtung und Anpassung aller Kulturebenen eines Unternehmens maßgeblich für das Etablieren einer Fehlerkultur.
Der vierte Schritt ist der wahrscheinlich wichtigste Vorstoß auf dem Weg zu einer Fehlerkultur: kontinuierliches Experimentieren im Unternehmen zu lancieren, weil durch neue Wagnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit Fehler beziehungsweise „intelligente Nebenprodukte“ hervorgerufen werden. Bemerkenswerte Unternehmen gehen also über das Erkennen und Analysieren von Fehlern hinaus und versuchen strategisch Fehler zu erzeugen – zum Zwecke des organisationalen Lernens und Innovierens. Doch wie kann Experimentieren gemäß „Trial and Error“ praktisch gefördert werden?
Mehrere Elemente haben sich hier als wirksam erwiesen. So sind zum Beispiel stark ausgeprägte Hierarchien unter der genannten Zielsetzung unzuträglich. Je mehr Verantwortung also „von oben nach unten“ abgegeben wird, desto mehr steigt die Experimentierfreudigkeit der Mitarbeiterschaft. Des Weiteren beflügelt Arbeit in interdisziplinären Teams das Annehmen neuer Perspektiven und Sichtweisen, welche in kreativere Ideen und Ansätze münden – immer auch damit verbunden möglicherweise – oder vielleicht eher glücklicherweise – zunächst nicht das gewollte Ergebnis zu erbringen. Wird das gemeinsame Lernen darüber hinaus durch regelmäßiges, gruppendynamisches und iteratives Feedback ergänzt, kann der Lerneffekt nochmals immens gesteigert werden.
Eine Realisierung des Vier-Schritte-Modells, welches die Integration von Fehlerdefinition, -kommunikation, -aufarbeitung sowie Experimentieren vorsieht, bedeutet für viele Arbeitsumfelder – wie auch das eigene – sicherlich eine grundlegende Neuausrichtung. Während dabei sichtbare Prozesse oder Unternehmensleitbilder relativ schnell angepasst werden können, erfordert die Modifikation kollektiver Werte und Grundannahmen ein konsequentes sowie langfristiges Engagement.
An der Stelle muss außerdem ergänzt werden, dass die Einführung einer Fehlerkultur in unterschiedlichen Branchen und Organisationen auch unterschiedlich leicht oder schwer umsetzbar ist. Gigerenzer vergleicht so zum Beispiel die divergierenden Voraussetzungen, die sich für die Umfelder von Fluggesellschaften und Krankenhäuser ergeben. Stark gelebte Hierarchien sowie drohende Schadensersatzprozesse von betroffenen Patienten bedingen bei Ärzten und Medizinern einen sehr defensiven Umgang mit Fehlern – Konsequenzen im Falle von Operations- oder Behandlungsfehlern tragen auch größtenteils nur die Patienten, weniger aber die ausführenden Ärzte. Bei Fluggesellschaften dagegen teilen die Piloten im Katastrophenfall das gleiche Schicksal wie die an Bord sitzenden Passagiere. Die große Medienpräsenz nach einem solchen Vorfall macht eine Verheimlichung von Fehlern dabei unmöglich. Fluggesellschaften tendieren also allein schon wegen ihrer strukturellen Beschaffenheit zu einer positiven Fehlerkultur.
Letztlich bildet eine etablierte Fehlerkultur aber nur einen Bestandteil von dem ganzheitlichen Ziel, eine lernende Organisation zu werden. Eine lernende Organisation ist ein Unternehmen, das sich ständig in Bewegung und Entwicklung befindet und dadurch auf sich verändernde Umweltanforderungen durch geeignete Anpassungen im Innern der Organisation reagieren kann – eine Fähigkeit, die in unserer dynamischen, schnelllebigen Welt zunehmend angestrebt wird. Weitere Komponenten neben einer positiven Fehlerkultur, die den Weg zum Ideal einer lernenden Organisation ebnen, sind zum Beispiel ein ausgeklügeltes Informations- und Wissensmanagement, dezentrale Entscheidungsgewalt, verstärkte Teamarbeit, Netzwerkbildung rund um das Unternehmen und eine Steigerung der intrinsischen Motivation durch transformationale Führung. Um Hap Klopps Worte aufzugreifen: Es scheint also, dass die „Secret Sauce“ des Silicon Valley aus noch weitaus mehr Zutaten besteht als nur „Failure“.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Zeppelin Universität / eMA DIP
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Beitrag (redaktionell unverändert): Anna Lena Robra
Redaktionelle Umsetzung: CvD