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Lucia A. Reisch, 1964 in Stuttgart geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und schloss 1988 als Diplomökonomin ab. Dort promovierte sie 1994 summa cum laude. Nach Tätigkeiten in Stuttgart, Kopenhagen oder Ludwigsburg ist sie seit 2011 ständige Gastprofessorin für Konsumforschung und
Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit, Verhaltensökonomik und Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus ist sie unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und Chefredakteurin des Journal of Consumer Policy.
Die Berichterstattung über Plastikmüll in den Ozeanen, Flüssen und Böden erlebt in den Medien ein enormes Hoch: Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Prof. Dr. Lucia Reisch: Plastik galt lange als vergleichsweise harmlos, außerordentlich vielseitig und praktisch und in Entwicklungsländern als Zeichen von Fortschritt. Emotional verstörende Bilder – verhungerte Seevögel mit Plastikteilen im Magen; Meeresschildkröten, die sich in Geisternetzen verfangen – gibt es dagegen noch nicht so lange. Und erst seit wenigen Jahren kennt die Öffentlichkeit den riesigen Plastikmüllteppich, der im Pazifik zwischen Kalifornien und Hawaii treibt, wobei die Größe dieses „Pacific Gargabe Patch“ nach neuesten Studien bisherige Schätzungen um ein Vielfaches überschreitet.
Berichte über die Schädlichkeit von marinem Plastikmüll gibt es zwar schon seit den 1970er-Jahren, aber erst seit den 2010er-Jahren wurde das Problem als global und relevant erkannt und thematisiert. Faktisch nimmt die Gefahr für Umwelt und Menschen durch Plastik enorm zu. Seit 1950 ist Plastik auf dem Markt, damals wurden rund 1,5 Millionen Tonnen im Jahr produziert. Im Jahr 2014 waren es rund 311 Millionen Tonnen Kunststoff, die jedes Jahr hergestellt werden. Davon landen zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen als Plastikabfall jährlich im Meer: Plastik – einschließlich verlorener Fischernetze – macht damit den größten Anteil des Mülls im Meer aus. Aktuelle Schätzungen gehen von 86 bis 150 Millionen Tonnen Plastikmüll in den Meeren und Ozeanen aus, der sich dort angesammelt hat – der meiste am Boden, ein kleinerer Teil auch an der Oberfläche. Plastikmüll gefährdet aber nicht nur das Leben der Seevögel und Meereslebewesen, sondern auch das des Menschen – zudem sorgt er für riesige Umwelt- und Reparaturkosten.
Was genau ist eigentlich Plastik und welche Vorteile und Nachteile bietet es?
Reisch: Bei dem umgangssprachlich verwendeten Begriff Plastik handelt es sich um Kunststoffe. Diese können sich in der Zusammensetzung, den Eigenschaften und der Verwendung stark unterscheiden. Zwei Hauptgruppen sind die Thermoplaste und Duroplaste. Thermoplaste sind durch Wärme verformbar und umfassen die meisten eingesetzten Sorten von Kunststoffen, weshalb der Begriff Plastik am häufigsten für diese Art Kunststoffe verwendet wird. Bei Duroplaste handelt es sich dagegen um Kunststoffe, die nach Erwärmung oder anderen Maßnahmen nicht mehr verformt werden können.
Kunststoffe haben in vielen Bereichen andere, traditionelle Materialen in der Benutzung abgelöst. Sie werden beispielsweise eingesetzt, um Lebensmittel aufzubewahren und die Haltbarkeit zu erhöhen und zur Isolierung von Elektronik – sie können die thermale Isolation verbessern und aufgrund der Leichtigkeit für einen geringeren Treibstoffverbrauch bei Flugzeugen und Autos sorgen. Die Haltbarkeit ist dabei das größte Problem. Besonders Wegwerfartikel wie Plastiktüten oder Strohhalme werden nicht ordnungsgerecht entsorgt, bleiben auf Mülldeponien liegen oder werden über Gewässer in die Meere gespült. Neben den schädlichen Eigenschaften des Plastiks selbst werden bei der Produktion in der Regel Chemikalien zugesetzt, um dem Plastik eine Farbe oder bestimmte Eigenschaften zu verleihen. Diese schaden der Biodiversität zusätzlich, insbesondere in den Meeren.
Wie sieht es aktuell mit der Ökobilanz von biologisch abbaubaren Alternativen aus?
Reisch: Verschiedene neuere Plastikarten wurden so produziert, dass sie sich einer bestimmten Umgebung leichter zersetzen sollen. In einem industriellen Kompost kann die Zersetzung tatsächlich schneller erfolgen, in der freien Natur ist bislang unklar, wie signifikant der Vorteil durch „biologisch abbaubaren Kunststoff“ ist und um wie viel schneller sich dieser auflöst. Im Wasser wird die Zersetzung von Plastik beispielsweise durch niedrigere Temperaturen erschwert – dies gilt besonders für Plastik, das auf den Meeresgrund absinkt: Dort ist keine UV-Einstrahlung vorhanden und der Sauerstoffgehalt und die Temperatur sind besonders niedrig. Diese Voraussetzungen erschweren die Zersetzung, auch die von biologisch abbaubarem Plastik.
Trotzdem ist es wichtig und richtig, in diesem Sinne weiter zu forschen. Die Bioökonomie investiert in biologisch abbaubare Materialien, die die Vorteile von Kunststoff haben. Bis diese soweit sind, sollte es zwei parallele Kreisläufe der Entsorgung geben: einen geschlossenen Wertstoffkreislauf für recyclebares Plastik (in Deutschland wird dies durch den „Grünen Punkt“ bereits in Ansätzen gemacht), zum anderen einen Kreislauf, in dem biobasierte Kunststoffe kompostiert werden – hört sich aufwendig an, muss aber wohl sein.
Ist die Verwendung von Plastik also momentan alternativlos?
Reisch: Die Verwendung von Plastik ist keinesfalls alternativlos – sie war nur über viele Jahrzehnte sehr kostengünstig, praktisch (leicht, stabil und vielfältig einsetzbar) und subjektiv problemlos. Gerade der hohe Verbrauch bei Verpackungen könnte verringert werden – hier gibt es bereits Ansätze beispielsweise im Handel: So experimentiert beispielsweise REWE mit Einkaufsnetzen. Ein kleiner, aber visionärer Vorreiter sind die „Unverpackt“-Läden, die es mittlerweile in vielen deutschen Städten gibt. Wenn man zudem auf dem Markt einkauft, hat man auch deutlich weniger Plastikmüll als nach einem Supermarkteinkauf. Es bleibt aber dabei, dass herkömmliches Plastik – auch im Vergleich zu den neueren „biologisch abbaubaren“ Varianten – einen klaren Kostenvorteil hat. Um diese Kostenstruktur zu verändern, bräuchte es eine Steuer. Andererseits könnte auch eine höhere Nachfrage von Verbrauchern nach plastikfreien oder plastikfrei hergestellten Produkten langfristig zu einer Veränderung führen.
Immer wieder ist die Rede von Mikroplastik, das für das menschliche Auge kaum noch sichtbar ist: Wie entstehen aus größeren Plastikabfällen diese Kleinstpartikel?
Reisch: Mikroplastik wird als ein Kunststoffteilchen definiert, das einen Durchmesser von 5 Millimetern unterschreitet. Alles darüber wird als „Makroplastik“ bezeichnet. Mikroplastik entsteht unter anderem dann, wenn sich Makroplastik durch Umwelteinflüsse und Abrieb zersetzt. Bedeutender ist jedoch die industrielle Produktion von Mikroplastik: So wird Mikroplastik beispielsweise eingesetzt, um Oberflächen von Gebäuden oder Schiffen zu reinigen, beim Spritzgießen oder beim 3D-Druck.
Laut einer Schätzung, die aus einem Bericht an die Europäische Kommission hervorgeht, entsteht Mikroplastik in Europa vor allem durch den Abrieb von Autoreifen und als Nebenprodukt bei der industriellen Produktion von Kunststoffen. Die Freisetzung von Mikroplastik durch Kosmetika dagegen ist von vergleichsweise geringer Bedeutung – gleichwohl hat Schweden kürzlich ein Verbot bestimmter Mikroplastiksorten in Kosmetika erlassen.
Inzwischen wird Plastik immer stärker als ökologisches und auch ökonomisches Problem gesehen: Wie ist es zu diesem Sinneswandel gekommen?
Reisch: Müll – und damit auch Plastikmüll – ist ein Mengenproblem. Und hier scheint ein Kipppunkt erreicht zu sein. Die ökologischen Folgen liegen auf der Hand, wenngleich das Ausmaß bislang unklar ist. Jedenfalls tötet Plastik Tiere – auch solche, die sowieso schon vom Aussterben bedroht sind – und zerstört die Biodiversität: So verwechseln Vögel und Fische Plastikstücke mit Nahrung, sie fressen das Plastik und verhungern, da sie sich durch das Plastik im Magen gesättigt fühlen. Die Auswirkungen von Mikroplastik auf Lebewesen und am Ende der Nahrungskette auch auf den Menschen sind bislang allerdings ungeklärt. Nur eine Zahl: Nach Schätzungen enthält eine Portion Muscheln geschätzt 90 Partikel Mikroplastik.
Neben diesen externalisierten Auswirkungen entstehen der Wirtschaft auch ganz konkrete Kosten – Schätzungen haben ergeben, dass durch Meeresmüll Kosten von rund 8 Milliarden US-Dollar entstehen – zum Beispiel durch die Reparatur von Schiffsschrauben, die durch herumtreibendes Plastik oder Fischernetze beschädigt werden. Auch der Tourismus kann durch vermüllte Strände hohe Schäden erfahren. Zudem „reisen“ invasive Arten auf Plastikteppichen an neue Ufer und richten dort Schäden im Ökosystem an. Schließlich ist der Schaden für die Gesundheit der lokalen Bevölkerung ebenfalls nicht unerheblich.
Die globalen Organisationen wie UNEP oder WWF haben – ziemlich spät – das Thema entdeckt und es auf die globale politische Agenda gesetzt. Wenn es ein Thema erst einmal dorthin geschafft hat, können die NGOs ihre Pressearbeit fokussieren, folglich steigt die Berichtsdichte und damit der Druck der Öffentlichkeit auf die Politik. Dies gilt zumindest für die Länder, in denen es eine organisierte Zivilgesellschaft und eine demokratisch legitimierte Politik gibt.
Gerade südostasiatische, aber auch südeuropäische Länder haben mit den großen Müllmengen zu kämpfen: Woran liegt das?
Reisch: Der Großteil des weltweiten Meeresmülls gelangt über die Flüsse Südostasiens in die Meere. Besonders betroffen ist daher das Südchinesische Meer und Teile des Pazifiks. Es ist kein Geheimnis, dass in China und den „Tigerstaaten“ bis vor Kurzem das Primat des Wirtschaftswachstums um jeden Preis gegolten hat – und in manchen Ländern noch gilt. Umweltschutz kostet zunächst einmal Geld, Industrialisierung durch Raubbau an der Natur und den Menschen ist wesentlich billiger. Ein kritischer Blick auf uns selbst zeigt, dass es auch in Europa noch nicht so lange her ist, dass externe Umwelteffekte durch Umweltpolitik internalisiert werden müssen.
Hinzu kommt, dass besonders in den Ländern Südostasiens entweder gar kein oder nur ein sehr rudimentäres Müllentsorgungssystem besteht. An die Trennung und das Recyceln von unterschiedlichen Plastiksorten ist in Ländern, in denen noch nicht einmal die Müllentsorgung gut organisiert ist, gar nicht zu denken. Selbst wenn die Menschen dort um die Problematik wüssten und dies wollten, könnten sie nicht wie in Europa ihren Plastikmüll halbwegs umweltfreundlich entsorgen. In jüngerer Zeit ist hier jedoch viel geschehen: Beispielsweise wird Wiedergewinnungs- und Recyclingtechnologie in diese Länder exportiert und – soweit möglich – in die Infrastruktur einer Kreislaufwirtschaft investiert. Politisch hilfreich wäre ein positiver Preis auf die Altstoffe, dies würde die Sammlung und Wiederverwertung sicherlich unterstützen.
Was halten Sie von der Idee, Einwegplastikstrohhalme und -geschirr sowie Watte- und Luftballonstäbchen zu verbieten, so wie es die EU vorhat?
Reisch: Zunächst mag dieser Plan nicht nur wie ein ziemlich sinnloses Unterfangen (was machen schon ein paar Wattestäbchen oder ein paar Strohhalme aus?), sondern auch wie typisch europäischer Regulierungswahn klingen. Es ist aber absolut sinnvoll, denn es handelt sich um Massen von Plastikteilen in besonders kritischer Größe (sie werden leicht und häufig von Meerestieren als essbares Futter verspeist). Zudem werden vor allem Einwegstrohhalme gerade an Stränden, also an Küsten genutzt und landen daher häufig im Meer. Dabei ist ein Ersatz hier so einfach, der Strohhalm heißt ja nicht zufällig so. Das mittlerweile berühmte Bild der Meeresschildkröte, die einen verwachsenen Halm in der Nase stecken hat, ist leider keine Seltenheit. Wenigstens war das Leiden dieser Schildkröte nicht umsonst: Dies war der Anfang zur Tierschutzkampagne „No to plastic straws“.
Für welche Gegenmaßnahmen plädieren Sie?
Reisch: Wir werden zweierlei brauchen: Marktbasierte Politiken wie Steuern auf Plastiktüten oder Einweggeschirr, um das Abfallaufkommen zu reduzieren, sowie Regulierung, um den Eintrag in die Gewässer zu verringern. Auch vor Verboten sollte hier nicht zurückgeschreckt werden, wenn sie sich als effektiv erweisen: Länder wie Uganda gehen hier mutig voraus, indem sie beispielsweise Plastiktüten ganz verbieten. Gleichzeitig muss in den Ländern (vor allem Südostasien und China), in denen noch nicht einmal eine entsprechende Entsorgungsinfrastruktur besteht, eine solche aufgebaut und den Menschen erklärt werden. Aufklärung, Bildung und Kompetenz (wohin bringe ich welchen Müll?) des Konsumenten gehört daher ebenfalls dazu.
Und eine Portion Kreativität, Engagement und Unternehmergeist schaden natürlich auch nicht: Studierende von der Copenhagen Business School haben gerade das Crowdsourcing-Projekt „MakeItCircle“ gestartet, indem sie wiederverwendbare Einkaufsnetze aus recyclebarem Nylon – das wiederum aus alten Fischernetzen stammt – als Alternative im Handel einführen wollen. Bewusst wollen sie damit Plastik das schlechte Image nehmen und zeigen, dass es eine wertvolle Ressource sein kann.
Tilman Knop, SPE-Student an der Zeppelin Universität, hat sich als wissenschaftliche Hilfskraft mit intensiven Recherchen in den vergangenen drei Jahren an der Arbeit des CCMP beteiligt. Aktuell absolviert er ein Auslandsjahr in Kanada.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm