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Dr. Claudia Steigerwald ist seit August vergangenen Jahres als Projektkoordinatorin für das Kompass-Studium an der Zeppelin Universität tätig. Davor promovierte sie am WÜRTH Chair of Cultural Production mit einer Arbeit zum Thema „Kulturelle Bildung als politisches Programm. Zur Entstehung eines Trends in der Kulturförderung“. Ihre Feldforschung führte sie unter anderem zum „Rat für Kulturelle Bildung e.V.“ – ein Think Tank der Stiftung Mercator in Essen –, für den sie als wissenschaftliche Referentin eine Studie zur Qualitätssicherung kultureller Ganztagsangebote betreute. Claudia Steigerwald hat Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg und Rom studiert.
"Kulturelle Bildung" hat Hochkonjunktur: Als Bestandteil der Kulturförderung von Bund, Ländern und Kommunen, in Modellprojekten von Stiftungen und den Education-Abteilungen von Kultureinrichtungen ist das Thema allgegenwärtig. Obgleich die Wirkung des Konzeptes erst in Ansätzen empirisch untersucht wurde, scheint seine Attraktivität für eine wachsende Zahl von Förderakteuren ungebrochen.
Das Buch spürt diesem Phänomen nach, indem es sowohl die argumentative Stärke des Konzeptes als auch Mechanismen des Lobbying in den Blick nimmt. Fundiert wird die Analyse durch eine historische Synopse der Institutionalisierung von kultureller Bildung seit den 1970er-Jahren – im außerschulischen Bildungsbereich, in Hochschulen, Ministerien und Kulturämtern.
Was genau ist unter „Kultureller Bildung“ zu verstehen?
Dr. Claudia Steigerwald: Eine gute Frage zu Beginn – denn man weiß es nicht. Kulturelle Bildung ist eine Art „Containerbegriff“, der für sehr viele unterschiedliche Sparten und Formen künstlerischer sowie pädagogischer Arbeit verwendet wird. Ob etwas nur „vermittelt“ werden – also etwa bestehendes, geschichtliches Wissen zu einer Kunstsparte weitergegeben – oder ein viel fundamentalerer Lernprozess stattfinden soll – etwa durch die eigene künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Wissen – wird überhaupt nicht unterschieden. Darüber hinaus ist der Begriff enorm politisch aufgeladen: So wird Kulturelle Bildung seit den 1970er-Jahren sehr oft die Funktion der politischen Emanzipation des Bürgers zugeschrieben. Es geht also bei weitem nicht nur um Kunst – der Anspruch ist auch da, den Bürger politisch zu bilden, um ihn auf diesem Wege zur kritischen Reflexion des bestehenden politischen Systems zu befähigen. Das ist nur einer der vielen Ansprüche, die – auch gerade aus der historischen Tradition des Begriffs heraus – an Kulturelle Bildung gestellt werden.
Wo liegen die historischen Wurzeln einer Begründung Kultureller Bildung als Aufgabe von Kulturpolitik?
Steigerwald: Von der kommunalen Kulturpolitik wurde das Thema erstmals unter dem ehemaligen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann als Teil der sogenannten „Neuen Kulturpolitik“ in den 1970er-Jahren aufgegriffen. Ziel war es damals vor allem, die bis dato als „elitär“ wahrgenommene Frankfurter Museumslandschaft einem breiteren Publikum zu öffnen. Eine „Demokratisierung“ von Kultur war das Ziel. Natürlich formulierte bereits Schiller die Idee der „ästhetischen Erziehung“, und auch Wilhelm von Humboldt sprach davon, dass man durch die ästhetische Bildung der Bürger restriktive politische Maßnahmen verhindern könne, da sie dadurch zu verantwortungsvollen Teilen des Gemeinwesens heranreifen würden. Mit der 68er-Generation folgte eine politische Neuinterpretation dieser Gedanken: Wie eben schon erwähnt, wurde ästhetische zunehmend zu „kultureller Bildung“ im öffentlichen Diskurs und bewegte sich damit von der „Katharsis durch Kunst“ hin zu einer linksintellektuellen Ausrichtung – nach dem Motto: Mit Kultureller Bildung die Welt verändern – als Erstes das politische System vor der eigenen Haustüre.
Was soll Kulturelle Bildung heutzutage leisten und wie realistisch sind diese Wirkungsversprechen?
Steigerwald: Heutzutage erstreckt sich das Wirkungsspektrum Kultureller Bildung von den arbeitsmarktpolitischen Versprechen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung (ich kann meine „Soft Skills“ durch Kulturelle Bildung erweitern und habe so bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt) hin zu einer dezidiert sozialpolitischen Versprechung, dass Kulturelle Bildung zur sozialen Kohäsion beitragen, also Chancengerechtigkeit durch kulturelle Teilhabe herstellen könne.
Wir sehen hier eine weitere Akzentverschiebung im Diskurs: Heute wird Kulturelle Bildung von allen möglichen Lobbygruppen, Parteien, Vereinen und Verbänden genutzt und jeweils passend für zentrale Denkschemata und Werte dieser Akteure gemacht. Während Kulturelle Bildung in ihrer soziokulturellen Interpretation früher unmöglich in ein Parteiprogramm der CDU/CSU Eingang gefunden hätte, wird sie heute ganz selbstverständlich von Politikerinnen und Politikern jeglicher Couleur aufgegriffen. Grund hierfür ist auch die Pädagogisierung des Begriffs; gegen die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen kann ja schließlich niemand etwas einwenden. Kurz: Kulturelle Bildung hat sich zum Chamäleon entwickelt, das sowohl dem konservativen Kommunalpolitiker als auch der Mitarbeiterin im Stadtteilkulturzentrum hilft, Gelder einzuwerben.
Welche Akteure sind im Feld der Kulturförderung aktiv und weshalb ist das Thema so attraktiv?
Steigerwald: Da sehen wir zum einen die Akteure der sogenannten „Zivilgesellschaft“ – also Stiftungen, Vereine oder Verbände –, klassisch staatliche Akteure wie die Kommunen, Länder und auch der Bund sowie den „Markt“, also Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft. In diesem Dreieck also aus Staat, Markt und Zivilgesellschaft wird der Diskurs um Kulturelle Bildung geführt. Zurückgeführt werden kann das auf Prozesse der „Cultural Governance“ – Politik wird heutzutage nicht vom Staat gemacht, sondern bindet ganz unterschiedliche, kleinere Entitäten, wie beispielsweise Bürgerinitiativen, ein. Warum das Thema so attraktiv für die verschiedensten Akteure ist, habe ich weiter oben bereits erklärt: Es liegt an der Anwendbarkeit seiner Wirkungsversprechen für die unterschiedlichsten Probleme des politischen Alltagsgeschäfts.
Welche Argumente für die Notwendigkeit Kultureller Bildung führen diese Akteure an?
Steigerwald: Ich unterteile das in sechs grundlegende Argumente: Das emanzipatorisch-politische Argument, das sozialpolitische Argument, das kulturpolitische Argument, das bildungspolitische Argument, das arbeitsmarktpolitische Argument und das individuelle Argument. Während die ersten drei ihre Wurzeln bereits in der Neuen Kulturpolitik und der Soziokultur der 1970er-Jahre haben, sind die letzten drei neuer. Dazu ist anzumerken: Oftmals entwickeln sich grundlegende Diskurslinien schon sehr früh und bestehen mal mehr, mal weniger stark fort. Es handelt sich also nicht um die vollständige Ablösung eines Arguments durch ein anderes, vielmehr verlaufen diese parallel und werden – je nach gesellschaftlichen Trends – akzentuiert.
Dabei wird nicht selten eine neue Interpretation einer Diskurslinie vollzogen: Das emanzipatorisch-politische Argument, das ich oben schon in der politisch aufgeladenen Zeit der 68er verortet hatte, aktualisiert sich aktuell im Diskurs um die Bürgergesellschaft. Es ist wieder „in“, sich einzubringen, digitale Bürgerbeteiligungsportale zu schaffen zum Beispiel. Kulturelle Bildung wird darin als zentrales Element gesehen, verantwortungsvolle Bürger heranzuziehen, die auch Lust haben, sich zu engagieren. Das sozialpolitische Argument wird vor allem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Programm „Kultur macht stark“ vertreten. In diesem Programm spielt die soziale Herkunft der Adressaten eine große Rolle – diese sollen möglichst aus sozialen Brennpunkten kommen, da man dort die Notwendigkeit am ehesten sieht, durch Kulturelle Bildung einer Spaltung der Gesellschaft vorzubeugen. Mit dem individuellen Argument ist die Pädagogisierung verbunden, die ich oben schon angesprochen hatte: Im Zentrum steht hier die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums, unabhängig von der Beseitigung gesellschaftlicher Missstände.
Durch welche Konstellationen werden die argumentativen Strategien nun wirkmächtig?
Steigerwald: Die Wirksamkeit vollzieht sich in einer Struktur, die ich mit dem niederländischen Diskurforscher Maarten Hajer „Diskurskoalitionen“ nenne. Das heißt, ich kann in der Analyse nachvollziehen, welche Akteure ähnliche Argumente vorbringen. Betrachtet man diese Akteure dann genauer, stellt man fest, dass durch spezifische Mechanismen die Wirkmacht bestimmter Argumente durch enge Koalitionen zwischen den sie vertretenden Akteuren noch gestärkt werden.
Es gibt beispielsweise einen Mechanismus, den ich „multiprofessionelle Funktionen“ nenne: Viele der ausschlaggebenden „Gatekeeper“ im Feld sind sowohl in der Wissenschaft, in der Politik und in zivilgesellschaftlichen Vereinen und Verbänden aktiv. Max Fuchs, Erziehungswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, hat etwa die Ausrichtung der Bundesvereinigung für Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. in seiner Zeit als Vorsitzender entscheidend geprägt. Dort ist das individuelle und sozialpolitische Argument sehr stark, vor allem die Rede vom „Empowerment“ durch Kulturelle Bildung. Max Fuchs war zugleich Präsident des Deutschen Kulturrates sowie Mitglied im Bundesjugendkuratorium. Logischerweise findet sich damit auch in diesen Kreisen ein starker Fürsprecher für eine auf Inklusion und soziale Kohäsion ausgerichtete Kulturelle Bildung.
Können Sie an einem Beispiel festmachen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Prozesse als Impuls im Diskurs dienen?
Steigerwald: Das lässt sich sehr gut am Beispiel der PISA-Studie der OECD festmachen: Nach dem wiederholt schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler kam von allen Seiten zunächst der Ruf nach einer Stärkung der sogenannten „Kernfächer“ in der Schule, also vor allem der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und des Deutschunterrichts. Interessanterweise hat Kulturelle Bildung dann aber relativ schnell die Rolle eines „Kontra-Arguments“ angenommen: So wurde insbesondere vom Bundesjungendkuratorium davor gewarnt, im Zuge der angestrebten Reformen die musisch-künstlerischen Fächer zu vernachlässigen. Vielmehr wurde die Bedeutung Kultureller Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen betont.
Im Zuge des „Investitionsprogramms Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) war dann relativ schnell die Ganztagsschule auf dem Tisch: In dieser Form hat die Kulturelle Bildung ein sehr erfolgreiches „Policy-Window“ gefunden. Seither wurde der Ausbau der Ganztagsschule kontinuierlich vorangetrieben. Da viele Schulen gar nicht wissen, mit was sie den Nachmittagsbereich nun füllen sollen, werden oftmals Künstlerinnen und Künstler, aber auch andere pädagogische Kräfte eingestellt, um die Zeit mit kulturellen Angeboten zu „füllen“.
Kann man tatsächlich von einer Konjunktur Kultureller Bildung sprechen, und wenn ja, wie lässt sich diese erklären?
Steigerwald: Will man die Konjunktur rhetorisch festmachen, auf jeden Fall! Was die tatsächlichen Mittelflüsse betrifft, ist das ein sehr undurchsichtiges Feld: Schließlich ist der Begriff der „Kulturellen Bildung“ oftmals nicht fest umrissen – im Grunde müsste man von den künstlerischen Fächern in den Schulen bis hin zum Aufbau von „Education“-Abteilungen in Kulturinstitutionen alles dazu zählen. Hier die genauen Mittelflüsse nachzuvollziehen, ist fast unmöglich. Fest steht: Die künstlerischen Schulfächer sind seit jeher chronisch unterversorgt. Es entsteht also der Eindruck, man wolle mit punktuellen „Finanzspritzen“ für die Förderung von Projekten mit begrenzten Laufzeiten die wichtigsten Lücken füllen. Damit wird das Problem aber nicht an der Wurzel gepackt.
Zur rhetorischen und institutionellen Konjunktur: Diese ist deutlich nachzuvollziehen. Dazu muss man nur einen Blick auf die Umschichtung der Referatsbezeichnungen in Ministerien werfen. War „Kulturelle Bildung“ hier lange Zeit bei den „Grundsatzangelegenheiten“ versteckt, hat es sich in immer mehr Häusern hin zu einem eigenständigen Referat gemausert. Betrachtet man andererseits die schwerpunktmäßige Behandlung des Themas in politischen Schlüsseldokumenten wie der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, so ist auch hier eine deutliche Konjunktur festzustellen.
Wie steht es insgesamt um die Kulturlandschaft in Deutschland?
Steigerwald: Deutschland ist ein Land, das sich sehr über die Finanzierung großer Kultureinrichtungen identifiziert: Lange war beispielsweise die Berücksichtigung subkultureller oder zeitgenössischer, innovativer Formen des Kulturschaffens keine Priorität – und auch heute nicht, obwohl es vielerorts Bemühungen gibt, gerade das zu fördern, etwa durch die Kulturstiftung des Bundes.
Die Frage ist aber immer noch: Nach welchen Kriterien werden Fördermittel vergeben? Wollen wir uns die andauernd punktuelle – meiner Ansicht nach nicht sehr nachhaltige – Förderung von Pilotprojekten weiter leisten? Oder kann es in die Richtung gehen, zu sagen: Okay, die großen Institutionen sind wichtig, aber auch alternative Formen des Kulturschaffens haben eine beständige und verlässliche Förderung verdient? Hier muss meiner Meinung nach noch viel getan werden.
Zum Ende eine persönliche Frage: Wie sind Sie auf das Thema Ihrer Dissertation gestoßen und was sollen Ihre Forschungen anstoßen?
Steigerwald: Auf das Thema bin ich im Gespräch mit meinem Betreuer, Professor Dr. Martin Tröndle, gestoßen. Ihm war das Thema aus seiner Zeit beim Niedersächsischen Kulturministerium sehr präsent. Nach einer kurzen Recherche bin ich dann auf so viele Programme, Projekte und politische Leitlinien in diesem Bereich gestoßen, dass ich wirklich erstaunt war. Was mich immer wieder verwundert, ist, dass beispielsweise Musikerinnen oder Musiker oftmals noch nie von „Kultureller Bildung“ gehört haben – obwohl sie privaten Klavierunterricht geben oder an einer Musikschule tätig sind. Das zeigt, dass der Diskurs vor allem auf einer politischen Ebene geführt wird. Es wird mit Begrifflichkeiten operiert, die sich gut in „Policy-Papers“ machen: Der ganz große Wurf – Kulturelle Bildung als Lösung für die Integration von Geflüchteten, die Inklusion an Schulen, eine nachwachsende Generation an Kulturbesucherinnen und -besuchern.
Was ich zeigen will, ist nicht etwa, dass das alles totaler Unsinn ist – auch ich glaube fest an die positive Wirkung etwa musikalischer Bildung für die Entwicklung verschiedenster Qualitäten im Leben. Jedoch muss man das Kind beim Namen nennen, um wirksame politische Maßnahmen anstoßen zu können. Einfach nur vage von „Kultureller Bildung“ zu sprechen und damit verschiedenste Kunst- und Pädagogikformen sowie deren potenzielle Wirkungen in einen Topf zu werfen, das ist zu wenig. Um politische Maßnahmen zu forcieren, müsste viel ehrlicher und gegenstandbezogener argumentiert werden.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm