ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professorin Dr. Karen van den Berg hat den Lehrstuhl für Kulturtheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität inne. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993 bis 2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen – zuletzt mit den Ausstellungsreihen „Politics of Research“ und „Pari Mutuel“ im Flughafen Berlin Tempelhof. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie des Inszenierens und Ausstellens; Kunst und Öffentlichkeit; Kunstvermittlung und Politik des Zeigens; Kunst und Emotionen (insbesondere Kitsch und Schmerz); Rollenmodelle künstlerischen Handelns; Altern und künstlerische Alterswerke; Soziale Effekte von Bildungsarchitekturen.
Wie haben Sie den Kultursommer fast ohne Festspiele, Festivals und internationale Kunstausstellungen erlebt?
Prof. Dr. Karen van den Berg: Der Kultursommer fand für mich persönlich einerseits sehr konzentriert am Schreibtisch statt, war aber auch geprägt von Verschiebungen, Absagen und Mehrfachplanungen und schließlich von einigen wenigen sehr schönen Veranstaltungen, auf denen eine ganz eigene Atmosphäre herrschte. Die letzte Ausstellung, die ich vor dem Lockdown besucht habe, war die Eröffnung von El Anatsui am 12. März in der Kunsthalle Bern. Der Künstler, der in Nigeria lebt, hatte einen Tag vor der Eröffnung sein Kommen abgesagt. Die Stimmung war wirklich seltsam. Es lag eine Mischung aus Trotz und unguten Vorahnungen in der Luft.
In meinen Augen überlegten sich gerade die agilen Museen, Galerien und Künstler*innen dann aber vergleichsweise schnell, wie sie das ökonomisch durchhalten und welche Alternativen sich bieten. Dabei herrschte überraschend wenig Panik, obwohl Messen und größere Kunstevents – abgesehen von wenigen Ausnahmen – ganz ins Wasser fielen.
Ich selbst hatte eine Reise zur Eröffnung der „Manifesta“ nach Marseille geplant, die eigentlich im Mai stattfinden sollte. Die „Manifesta“ öffnete dann aber erst Ende August die Pforten und auch das nur schrittweise. Ein paar Tage vor der ersten Teileröffnung im August wurde dann auch dieser Termin von einer erneuten Corona-Welle überschattet. Ich bin also nicht nach Marseille gefahren. Das einzige größere Event, das ich im Sommer besucht habe, war das „Gallery Weekend Berlin“. Hier war die Atmosphäre sehr besonders: irgendwie entspannter und intimer. Die Ausstellungen selbst waren leerer, die Vernissagen weniger aufgedreht, aber dadurch sympathischer und irgendwie zugewandter. Zugleich war der Besuch organisatorisch herausfordernd, weil man im Vorhinein überall Timeslots buchen musste. Es war also nicht einfach, unter diesen Bedingungen einen vernünftigen Parcours von Ausstellungsbesuchen hinzubekommen.
In die große Ausstellung „Studio Berlin“ im Berghain bin ich deshalb nicht hereingekommen. Die war offenbar neben der sensationellen Installation von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof der Publikumsrenner. Alle wollten ins Berghain – wenn schon nicht zum Tanzen, dann doch, um Kunst zu sehen in einer Umgebung, die vielleicht nie mehr das sein wird, was sie mal war. Für diese kurzfristig und gerade wegen Corona anberaumte Ausstellung waren schon nach wenigen Stunden, nachdem die Online-Buchung freigeschaltet wurde, alle Tickets weg. Selbst der Veranstalter Christian Boros war überwältigt von diesem Ansturm und sprach von einem immensen Nachholbedürfnis.
Wie hat die Corona-Pandemie darüber hinaus die Kultur- und Kreativwirtschaft belastet? Welche Probleme hat die Krise in der Branche offengelegt?
van den Berg: Die Belastung ist extrem. Man muss zunächst wohl keine Kunstmarktexpertin sein, um eine Pleitewelle von Galerien heranrollen zu sehen. Die Kauflust im Kunstfeld hängt mit einer Reiselust zusammen. Beinahe die Hälfte des weltweiten Umsatzes von Galerien wird auf Kunstmessen erzielt, und die sind ausgefallen. Förderinstrumente, die hier etwas Abhilfe schaffen können, wie etwa die Kurzarbeit, gibt es eben längst nicht überall. Das Metropolitan Museum in New York hat schon im April 80 Mitarbeiter*innen entlassen. Im August hieß es dann, dass der Mitarbeiter*innenstab um 20 Prozent geschrumpft ist. In Deutschland haben viele Künstler*innen, aber auch die Kunstvermittler*innen seit Monaten kaum bis gar keine Einnahmen. Musiker*innen und DJs, die von Konzerteinnahmen leben, sind besonders heftig betroffen –mit wenig Aussicht auf baldige Änderung der Lage. Sie haben nicht nur die Absagen und fehlenden, nicht mehr aufholbaren Einnahmenverluste während des Lockdowns zu verkraften, sondern erhalten derzeit auch schlicht kaum Anfragen für zukünftige Konzerte. Dagegen geht es den Galerien und Museen noch vergleichsweise gut.
Die Bundesregierung hat das Programm „NEUSTART KULTUR“ ins Leben gerufen. Dafür steht rund eine Milliarde Euro zur Verfügung. Reicht das, um das kulturelle Leben wieder anzukurbeln?
van den Berg: Ich kenne die Zahlen zu wenig, um sagen zu können, wie weit man damit kommt. Gut ist zunächst einmal, dass diese Gelder nicht an allzu viele Nebenbedingungen geknüpft sind. Was aber auch klar ist: Der Löwenanteil öffentlicher Kulturförderung landet in Deutschland traditionell bei den großen und mittleren etablierten Institutionen. Die werden daher von diesen Geldern sicher profitieren. „Antragsberechtigt sind Museen, Ausstellungshallen und Gedenkstätten sowie Veranstaltungsorte von Konzert- und Theateraufführungen, soziokulturelle Zentren und Kulturhäuser“ heißt es bei dieser Initiative. Nicht adressiert werden daher die kleinen informellen Initiativen und Solo-Selbstständigen.
Besonders für freie Musiker, Schauspieler, Künstler – die sogenannten Solo-Selbstständigen – bleibt die Lage also trotz staatlicher Hilfen schwierig. Was muss die Politik tun, um ihnen eine Zukunftsperspektive zu geben?
van den Berg: Diese Akteure trifft die Pandemie tatsächlich ungleich härter. Außerdem tun sie sich sehr schwer mit den administrativen Anforderungen und der Antragslogik. Während also zum Beispiel arrivierte Künstler*innen mit größeren Studios und mehreren Angestellten Kurzarbeit für ihre Mitarbeiterschaft in Anspruch nehmen, gehen diese Fördermaßnahmen an Künstler*innen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, eher vorbei. Außerdem leben die Solo-Selbstständigen und die kleineren Initiativen der sogenannten Freien Szene vor allem von ihrem Enthusiasmus. Für sie ersetzt weder der Online-Podcast noch eine finanzielle Unterstützung die Bühne.
Im Bereich der Bildenden Kunst – das zumindest geht aus einer aktuellen Studie des Berliner Instituts für Strategieentwicklung (IFSE) hervor – glauben daher viele Akteure eher, dass mit einer Erhöhung öffentlicher Kunstankaufsetats oder der Bereitstellung von Produktionskosten in der Breite mehr geholfen wäre. Ein anderer Vorschlag dieser Studie besteht in der Unterstützung derer, die im Bereich der Kunstvermittlung engagiert sind. Die Kunstvermittler*innen – auch im öffentlichen Bereich – arbeiten traditionell freiberuflich. Ihnen sind die Aufträge von einem Tag auf den nächsten ganz weggebrochen, statt sie im Bereich der digitalen Vermittlung einzusetzen.
Dennoch: Es gibt nicht für alle überzeugende Förderlösungen. Am schwersten betroffen sind die Musiker*innen, die Kinos, die Clubszene und die DJs. Viele Clubs haben enorme laufende Kosten. Und sie sind die letzten in der Reihe der Institutionen, die ihren Betrieb wieder aufnehmen können.
Mehr Geld für Ankäufe oder eine Heraufsetzung von Produktionsetats, die es Künstler*innen ermöglicht, ein Album aufzunehmen, Theaterstücke zu entwickeln oder größere Kunstprojekte zu planen, das meinen zumindest die Kulturschaffenden selbst, können am ehesten helfen.
In vielen Industrien heißt es, dass die Corona-Krise auch einen längst überfälligen Strukturwandel beschleunigt, sich Branchen also von Altlasten befreien können. Gilt das auch für Kunst und Kultur – braucht es also wirklich Jeden, der sich in Berlin Kreuzberg als Künstler bezeichnet?
van den Berg: Dass die staatlichen Fördermaßnahmen auf Strukturwandel zielen, das kann ich im Moment nicht erkennen. Sehr weitgehend geht es dabei ja eher um Strukturerhaltung. Wenn ich mir aber in der Kunstwelt einen Strukturwandel wünschen würde, dann keinen, in dem es weniger Künstler*innen gibt. Der Künstler und Aktivist Gregory Sholette hat vor knapp zehn Jahren ein interessantes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Dark Matter“. Darin argumentiert er, dass die Kunstwelt auf die sogenannten gescheiterten Künstler*innen angewiesen ist. Sie sind es, welche die Ausstellungen besuchen, die Kunstbücher kaufen, zu den Eröffnungen kommen und sich am Kunstdiskurs beteiligen. Sie sind damit ein wichtiger Teil einer lebendigen Kunstwelt.
Wenn mit der Rede von einer gesunden Ausdünnung also jene gescheiterten Künstler*innen gemeint sind, die angeblich ohnehin keine „relevante“ Kunst produzieren, dann übersieht man nicht nur diesen Aspekt, sondern zudem, dass sie es sind, die sich in der Kunstvermittlung und im Musikunterricht verdient machen. Sie sind daher alles andere als umweltschädigende Altlasten. Dieser Vergleich hinkt.
Dennoch: Ein positiver Effekt der Pandemie besteht vermutlich schon darin, dass viele beginnen, mit einem gewissen Abstand auf den Betrieb zu blicken und sich grundlegende Sinnfragen zu stellen. So gab es noch bis vor Kurzem einen Hype um Kurator*innen, die im Vierstundentackt schlafen, um ständig zwischen den Zeitzonen wechseln zu können und ohne Jetlag permanent um den Erdball zu fliegen. Mit der Begeisterung für dieses Role Model ist es nun wohl jetzt vorbei. Es gibt stattdessen ein Revival des Lokalen. Das macht nicht nur die von der Sammlung Boros initiierte Ausstellung „Studio Berlin“ im Berghain deutlich, die nur in Berlin und Umgebung arbeitende Künstler*innen zeigt, sondern auch der Umstand, dass sich viele sozial engagierte lokal agierende Kunstprojekte durch die Pandemie nicht irritieren lassen, weil sie eh immer schon unter extrem prekären Bedingungen operiert haben.
Bereits seit Beginn der Pandemie gibt es eine digitale Bewegung in der Kultur- und Kreativbranche. Opern, Konzerte, Theateraufführungen oder Museumsführungen werden ins Internet gestreamt. Kultur ist plötzlich vom heimischen Sofa aus erfahrbar und steht allen kostenlos zur Verfügung. Wie sehen Sie die digitale Beschleunigung der Kulturwelt und welche Vor- und Nachteile sind mit dieser Entwicklung verbunden?
van den Berg: Für mich persönlich war es wichtig, während des Lockdowns an digitalen Konferenzen, Führungen, Talks und Studiobesuchen teilnehmen zu können. Das hatte eher etwas Entschleunigendes. Auch sind in diesem Rahmen viele gelungene neue Formate im Digitalen entstanden, die schnell auf Themen reagiert haben und weniger exklusiv waren. Einige aktuelle Debatten konnten in sehr kurzfristig arrangierten gelungenen Podiumsgesprächen diskutiert werden, die unter anderen Vorzeichen so nicht zustande gekommen wären. Das kann aber weder einen Konzert- noch einen Ausstellungsbesuch oder die Begegnung mit Kolleg*innen ersetzen, und auch die ökonomischen Probleme werden damit nicht zu lösen sein.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass sich manche den regelmäßigen Kulturbesuch in diesen schwierigen Zeiten abgewöhnen?
van den Berg: Eine Freundin sagte neulich zu mir, sie hätte während des Lockdowns gemerkt, dass Konzerte für sie wie ein „Lebensmittel“ sind. Sie wird es sich sicher nicht abgewöhnen. Aber es ist natürlich zu beobachten, dass man sich im Moment dreimal überlegt, ob man eine weite Fahrt auf sich nimmt, um ein Konzert oder eine Ausstellung zu besuchen. Da gibt es eine neue Zurückhaltung, die vermutlich auch über die Pandemie hinaus anhalten wird und auch mit Fragen der Nachhaltigkeit zu tun hat.
„Wir laufen schon Gefahr, dass wir in Deutschland unsere vielfältige und reiche Kulturlandschaft aufgrund dieser Umstände verlieren“, äußert sich der Intendant der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Beat Fehlmann, in einem Artikel in der neuen musikzeitung. Teilen Sie diese Meinung?
van den Berg: Er hat Recht und ich möchte in diesen Zeiten kein Konzerthaus oder Orchester leiten müssen. Das ständige doppelte und dreifache Planen, Zurückrudern und Hoffen ist bedrückend und zermürbend. Gerade die Musik- und Festivalveranstalter sind daher sehr dringend auf Förderungen angewiesen, um nicht vor die Hunde zugehen. Er hat aber auch über die Pandemie hinaus Recht, weil eine reiche vielfältige Kulturlandschaft immer in der Gefahr steht, verlorenzugehen: auch in guten Zeiten – und sei es, weil sie zu sehr von ihrer eigenen Bedeutsamkeit eingenommen ist.
Titelbild:
| Pierrick van-Troost / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Yannis Papanastasopoulos / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Eddy Klaus / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm