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Armen Avanessian, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und politischer Theoretiker. Er war Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien und Universitäten, unter anderem in Nürnberg, Hamburg, Kopenhagen und Paris. Von 2017 bis 2021 leitete er die beliebte Veranstaltungsreihe »Armen Avanessian & Enemies« im Roten Salon der Berliner Volksbühne. Seit August 2021 ist er Professor für Medientheorie an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen.
Herr Avanessian, wir Menschen lieben offenbar Begriffe mit „K“ – Krise, Kulturkampf, Krieg, Konflikt. Sie haben jetzt ein Buch über Konflikte geschrieben. Wie würden Sie dieses Wort überhaupt definieren?
Prof. Dr. Armen Avanessian: Zunächst einmal versuche ich es abzugrenzen von diversen anderen, ebenso gleichlautend wie schwammig verwendeten Begriffen wie Streit, Auseinandersetzung, Zusammenstoß. Von Konflikten schlage ich vor nur da zu sprechen, wo die Grundfeste einer Person oder einer Gesellschaft betroffen sind, weswegen Konflikte nicht so einfach zu lösen sind. Sag mir welche Konflikte du hast, und ich sage dir, wer du bist. Das heißt wir sind unsere Konflikte, statt sie nur zu haben, wegmedikamentieren zu können oder anderen dafür die Schuld zu geben. Nicht der oder die anderen sind schuld, und Konflikte finden auch nicht zwischen zwei Parteien statt, sondern involvieren meist den gesamten Kontext, in dem sie auftreten. Das bedeutet zugleich: Für tatsächliche Konflikte lassen sich keine neutralen Beobachter-, Moderator- oder Mediator:innen finden oder eine allgemeingültige Regelung. Das sehe ich aber durchaus positiv. Konfliktpotenzial wörtlich verstanden meint nicht, dass diese zu Gewalt eskalieren, sondern durch Konflikte können wir lernen, wer wir sind und was mir mit anderen teilen. Das meint Teilnahme oder Teilhaben an Konflikten.
Sie kritisieren, dass wir uns nicht aktiv mit den Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzen, sondern uns aus ihnen herauswinden. Ich würde entgegnen: Wir gehen Klimawandel, Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Co. gerade offensiv an. Woher währt ihr Unmut?
Avanessian: Ich denke, wir agieren zu einem großen Teil nur auf der Ebene der Symptome und Probleme, die aus tieferliegenden Konflikten resultieren. Der grundsätzliche Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie etwa, der für unsere Gesellschaft fundamental ist, wird gerade nicht ausgetragen; stattdessen fantasieren wir von Lösungen eines angeblich freien Marktes mittels mehr grüner Technologien und individueller verantworteten Abgaben, so als ob die real existierenden demokratischen und ökonomischen Institutionen und Regularien ausreichend wären und es keiner radikalen Transformation bedürfe. Dabei wird die Klimaerwärmung in naher Zukunft die Migration noch um ein Vielfaches verstärken, mit der offensiv umzugehen ja nicht meinen kann, die europäischen Grenzen gegen die vom globalen Norden verursachten Klimaflüchtlinge abzudichten. Und ob wir in einer gleichberechtigteren Gesellschaft leben, darüber möchte ich nicht urteilen.
Können Sie das Problem der Konfliktvermeidung an einem beispielhaften Konflikt erklären?
Avanessian: Es ist je de facto ein Gemeinplatz, dass – trotz gleichzeitiger Konstatierung von Konflikten auf allen Ebenen: von innerkörperlichen Diskrepanzen über zwischenmenschliche Auseinandersetzungen bis hin zu geopolitischen Kämpfen zwischen ganzen Kulturen oder Zivilisationen – gesellschaftliche Auseinandersetzungen von einem wechselseitigen Vorwurf der Konfliktscheu oder Konfliktunfähigkeit geprägt sind. Demzufolge verweigern sich nicht nur Konservative oder Rechte anderen Meinungen und Kulturen, sondern auch Liberale, Linke oder Progressive verbleiben angeblich in ihren woken Filterblasen oder betreiben eine aktive Cancel Culture.
Zielführender scheinen mir da psychologische und soziologische Analysen wie diejenigen Alain Ehrenbergs, demzufolge wir zunehmend depressive und erschöpfte Wesen sind, unfähig unsere individuellen und gesellschaftlichen Konflikte herzustellen und auszutragen.
Sie sagen, wir müssen die Probleme von morgen stattdessen schon heute lösen. Wenn ich dazu in der Lage wäre, dann wäre ich wahrscheinlich ein reicher Mann. Wie soll das gehen?
Avanessian: Mir geht es da vor allem um eine Umkehr der üblichen Perspektive oder Chronologie, wonach zuerst die Konflikte vorhanden sind, die dann etwa zu Gewalt eskalieren, wenn sie nicht gelöst werden. Was aber, wenn es genau umgekehrt ist, dass die bestehende Gewalt – also struktureller Rassismus, Misogynie oder Sexismus, aber auch sogenannte langsame Gewalt (Slow Violence, Rob Nixon) gegen unsere Umwelt – nur durch Herausarbeitung und Herstellung von Konflikten tatsächlich angegangen werden kann?
Ich habe den Eindruck, die Fronten in Konflikten sind zunehmend verhärtet. Bewahrer gegen Progressive, Linke gegen Rechte, Mehrheiten gegen Minderheiten. Wie soll man Konflikte da lösen, wenn man sich immer härter anpackt?
Avanessian: Gemeinsam mit einigen (sehr wenigen) neueren Ansätzen in der Konfliktmediation und -moderation plädiere ich angesichts so unlösbarer Phänomene wie dem Klimawandel eher für ein Staying with Conflict (Bernard Mayer), einem Verweilen bei Konflikten, oder einem Staying with the Trouble, von dem Donna Haraway spricht, dem Aushalten auch von damit verbundener Ambivalenz, anstelle eines naiven Glaubens an schnelle Lösungen oder umgekehrt verzweifeltem Nichtstun. Um mit entsprechenden Problemen umzugehen und sie eventuell sogar zu lösen, ist es aber unumgänglich, die zugrundeliegenden Konflikte zu thematisieren. Weil Sie nach Beispielen fragen: Wir alle hoffen auf eine baldige Beendigung des von Russland verschuldeten Krieges in der Ukraine, aber an eine Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes zu glauben, so als ob dieser erst ein paar Monate oder Jahre existieren würde, wäre naiv. Die Art, wie einzelne Nationalstaaten oder Kulturen ihre Identität konstituieren oder welche komplexen ökonomischen und geopolitischen Interessen auf dem Spiel stehen, das spielt auf einer anderen Ebene als die fälschlicherweise und irreführender Weise als „Konflikt“ bezeichneten kriegerischen Auseinandersetzungen.
Welche Rolle spielen soziale Medien dabei, Konflikte zu schüren, am Leben zu erhalten und möglicherweise gar ihre Lösung zu verhindern?
Avanessian: Medien waren natürlich immer schon an Konflikten interessiert und beteiligt. Anstelle des sehr oberflächlichen Kampfbegriffs der Fake News interessiert mich, das mit der Digitalisierung etwas entscheidend Neues hinzukommt, und zwar, dass quasi in die Kategorie „Wissen“ selbst ein Konflikt eingetragen wird. Wissen wird eine konflikthafte Kategorie. Was ist überhaupt Wissen oder Verstehen (etwa im Gegensatz zu bloßer Information und ihrer Auswertung)? Wie können wir völlig neue Mengen und Arten von computergeneriertem Wissen überhaupt verarbeiten und in ein neues planetarisches Handeln umsetzen, wie wir es in Zeiten von Pandemien und Klimawandel benötigen?
Auch innerhalb der Philosophie gibt es Konfliktlinien entlang unterschiedlicher Schulen. Das Philosophiemagazin nennt Sie etwa „eine der wichtigsten Stimmen der linken Theorie“. Welchen Konflikt fechten Sie gerade aus?
Avanessian: Ich fechte nicht. Aber als Kind eines Einwanderers und zugleich Profiteur einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, als Familienvater, der zugleich Professor ist und versucht, eine gleichberechtigte Beziehung zu führen, partizipiere ich tagtäglich an ausreichend Konflikten.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm