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Dr. Joachim Landkammer studierte in Genua und Turin; seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie; neben politischer Philosophie setzt er sich unter anderem mit Ästhetik und Bildungstheorie auseinander.
Beispielhafte Versuche, die Differenz zwischen Laien und Experten grundsätzlich in Frage zu stellen, wurden im Bereich der Neuen Musik bei der ZU-artsprogram-Veranstaltung am 20.11. mit dem Komponisten Bill Dietz präsentiert: Seine künstlerischen und kuratorischen Ideen (unter anderem als Leiter des Ensemble Zwischentöne in Berlin) unterlaufen die Trennung zwischen Ausführenden und Zuhörenden, von professionellen Musikern und „dilettantischem“ Publikum, wie es zum Beispiel die von ihm initiierte Veranstaltungsreihe „Eine Audienz mit dem Publikum“ (Berlin 2009) schon im Titel ankündigt. Und Dietz‘ Tutorial Diversions sind „Kompositionen für Zuhörer, die zu Hause aufzuführen sind“, genauer: musikalische settings und Anleitungen zu körperbewussten Höraktionen für „hausmusikalische Dilettanten“. Nachdem es hierbei nicht mehr um „musizierende“, musik-(re)produzierende Aktivitäten im eigentlichen Sinn geht, der Laie also nicht mehr in Kreativitäts- und Performanz-Konkurrenz zum „Profi“ tritt (ohne jedoch nur der übliche passive Konsument zu sein), wird ein weiteres mögliches Verständnis heutigen Dilettantentums sichtbar: nur der nicht-professionelle, nicht-produktive und nicht-kreative Laie kann auf dilettantische Weise, das heißt ohne normativen Druck, individuelle Wahrnehmungräume ausloten und ästhetische Eigenwelten finden.
Das vorherrschende Paradigma der Wissens- und Kommunikationsgesellschaft steht unter dem Zwang der quantitativen Hochleistung und Überbietung: Informationen, Bilder, Meinungen, „Fakten“, sollen möglichst schnell, möglichst vollständig, möglichst realitätsgetreu, präzise und „gestochen scharf“ vom Sender zum Empfänger kommen. Zugrunde liegt ein Ideal des gegenseitigen „Verstehens“, das ein in Bytes und Pixel meßbares Maximum von gelungener Informationsübertragung anpeilt. Was dabei vergessen wird: Es gibt kommunikative Impulse und Irritationen, die gerade deswegen sehr viel produktiver und innovativer sind, weil sie missverstanden werden – und missverstanden werden müssen. Die vielbeschworene „Anschlussfähigkeit“ wird dann nicht durch den homophonen Gleichklang der Mitteilungsabsichten und der geteilten Codes gesichert, sondern durch inkohärente, undurchschaubare und „unpassende“ Formen der Kommunikation gerade unterlaufen. Das geschieht dort fast zwangsläufig, wo es besonderer Kompetenzen bedarf, um die etablierten Master-Codes zu verwenden und zu beherrschen. Der „Dilettant“, der nicht weiß, was „sich gehört“ und wie man/frau etwas „eigentlich“ macht, produziert notwendigerweise kommunikative Fehlleistungen, niveaulose Unterbietungen und nur ironisch zu ertragende Mißverständnisse. Ist aber solcher „dilettantischer Unsinn“ deswegen schon „sinnlos“?
KulturwissenschaftlerInnen, die sich – wie es sich das ZU-Forschungscluster „Kulturproduktion der nächsten Gesellschaft“ vorgenommen hat – die Frage nach den zukünftig notwendigen kulturellen Kompetenzen stellt, haben schon seit längerem auf das kreative Potential von „produktiven Missverständnissen“ hingewiesen: in der Populärkultur, in der interkulturellen Kommunikation, in der Bildung und in der kulturellen Selbstreflexion der Gesellschaft. Real vorgelebt wurde die Innovationskraft dilettantischer „Fehlleistungen“ aber in der Kunst. Künstler können nicht erst seit Beuys´ „Jeder Mensch ist ein Künstler“ den Vorwurf des „Dilettantismus“ sehr viel leichter von sich abprallen lassen, ja sie dürfen ihn – in Absetzung vom regulären, professionalisierten Kunstbetrieb – sogar als ein Versprechen von Außergewöhnlichkeit und Originalität auffassen. Es nimmt daher nicht Wunder, dass es immer wieder Seminare, Symposien und Ausstellungen zum Thema „Dilettantismus in der Kunst“ gibt, so etwa die 2008 von Ralph Rugoff kuratierte Ausstellung Amateurs am Wattis Institute for Contemporary Arts in San Francisco.
In Deutschland hat hingegen Frank Motz (47), Gründer und Leiter der ACC Galerie in Weimar, in diesem Jahr eine Ausstellung mit dem Titel des Goethe/Schillerschen Anti-Dilettanten-Pamphlets „Über den Dilettantismus“ organisiert, in der 16 internationale Künstler „sich eher intuitiv als vorsätzlich auf holprigem Pfade zwischen Trial and Error und Learning by Doing durch die Büsche schlagen“. Im vom artsprogram der ZU veranstalteten Kuratorengespräch am 15.11. hat Motz, Träger des Weimarpreises 1998, neben einer tour de force-Übersicht über seine vielen hochinteressanten Projekte in Weimar und Leipzig in der Halle 14, verschiedene der ausgestellten dilettantischen Kunstprojekte vorgestellt, die als konkrete Experimente künstlerischer Praxis nach dem Mehrwert unprofessioneller Unfähigkeit suchen.
Welche Elemente entstehen etwa, wenn man als Nicht-Chemiker aus den chemiedidaktischen Steckbaukästen Molekular-Modelle nach rein „ästhetischen“ Gesichtspunkten formt (Hagen Betzwieser, Ein Eimer Voll Teilchen)? Welche Apparatur kommt zustande, wenn ein Nicht-Ingenieur ein mit Lachgas, Flüssigpropangas und Leinsamenöl angetriebenes Auto bastelt (Paul Etienne Lincoln, Panhard Special)? Wie sähe eine nicht-genetisch kreiertes Flügel-Wesen aus (Per Olaf Schmidt, Schmetterling-Effekt Prothese)? Und was kommt heraus, wenn man ganz ohne Deutschkenntnisse Kafkas Verwandlung ins Englische übersetzt (Rory MacBeth, The Wanderer by Franz Kafka) und eine französische Videokünstlerin, die kein Englisch versteht, daraus ein Filmskript macht (Laure Prouvost, The Wanderer (Betty Drunk))?
Besonders das letzte Beispiel kann als ein ironisch-lässiger Kommentar zu der kulturtheoretisch immer wieder geäußerte Skepsis gegenüber Übersetzungen und anderen interkulturellen Kommunikationsversuchen gelesen werden. Natürlich gibt es keine „perfekte“ Übersetzung (tradurre é tradire), keine Kopie erreicht die Aura des Originals, jeder versteht „Gleiches“ anders. Aber wer sagt, daß die „Verwandlung der Verwandlung“ in den „Wanderer“ von MacBeth-Kafka nicht einen viel besseren und interessanteren „Kafka” ergibt?
Auch die „Kulturproduktion der nächsten Gesellschaft“ wird zu großen Teilen „Kulturreproduktion“ bleiben: als Kontrapunkt zum perfektionistischen Gelingen durch High-Tech-Effizienz werden wir vermutlich dem dilettantisch misslingenden Reproduzieren und den daraus stammenden produktiven Missverständnissen eine wichtige Rolle zugestehen müssen.
Bilder: ACC Galerie