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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Zweiundneunzig Prozent der Deutschen hatten sich – und der Welt, darf man glauben – die Wiederwahl von Barack Obama gewünscht, diese Prozentzahl ist wohl typisch für das föderale Europa, und ein nicht geringerer Teil von ihnen, kann man getrost weiter annehmen, gönnt es nun den Vereinigten Staaten und ihren Wählern nicht, dass sie imstande waren, diese deutsche und europäische Mehrheits-Hoffnung wirklich werden zu lassen. Das ist sozusagen die konvexe Form und die Reaktion zur Identität des alten und neuen amerikanischen Präsidenten, wie sie erst während der vergangenen Monate, durch seine Probleme im Wahlkampf ebenso wie durch den überraschend undramatischen Sieg greifbar wurde.
Obama hat zwei herausragende Tugenden, die nur selten als die zwei Komponenten eines Gesamtprofils begriffen werden, weil sie so unvereinbar sind, dass sie sich wechselseitig blockieren können. Seit mehr als vier Jahren weiß die Weltöffentlichkeit, dass niemand (seit John F. Kennedys Zeit) überzeugender als Barack Obama die in den bürgerlichen Revolutionen kondensierten Tugenden der Aufklärung verkörpert hat. Als er [...] nach Eingang der entscheidenden Wahl-Daten davon sprach, dass die amerikanische Gesellschaft „einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu ihrer Vollkommenheit“ vollzogen habe, waren Obama-Anhänger (wie ich) für einen Moment und gegen besseres Wissen versucht, diesen Satz und den von ihm vorausgesetzten geschichtsphilosophischen Glauben an den Fortschritt ein allerletztes Mal ernst zu nehmen. Seine andere Tugend (hier müsste man wohl eher von einer Konfiguration mehrerer Tugenden sprechen) gehört zur Dimension des politischen Alltags und liegt in einer fast unvergleichlichen Geduld, einem Augenmaß für das Mögliche, einer außergewöhnlichen Urteilskraft und einer (nur selten aktivierten) Bereitschaft zum Risiko. Es war, glaube nicht nur ich, Obamas politischer Alltagsstil, der unser Land nun schon seit vier Jahren an allen Gefahren einer wirtschaftlichen, sozialen und außenpolitischen Implosion vorbeigesteuert hat – doch dass sich die wichtigsten Erfolge seiner Politik allein unter diesem Motiv subsumieren lassen, enttäuschte jene ehemaligen Obama-Anhänger, die unter dem Eindruck seiner Wahlkampfrhetorik von 2008 mit spektakuläreren Erfolgen im Sinn des Slogans „Yes, we can“ gerechnet hatten.
Durch diese beiden Tugend-Komplexe des einen Präsidenten verfugen sich – mit manchmal paradoxalen Wirkungen – zwei Erfahrungs-Formen der Zukunft. Zur Konzeption und zur rhetorischen Praxis der Aufklärung gehörte die Voraussetzung einer offenen, von Menschen in der Gegenwart auf Grundlage vergangener Erfahrungen zu gestaltenden Zukunft, und das ist jene Zukunft, ohne die eine Praxis der „Politik“ und ihrer Rituale im modernen Sinn nicht denkbar waren. Obamas scheinbar wenig spektakuläre Alltagspolitik hingegen blieb konzentriert auf eine andere Zukunft, die sich als Konvergenzpunkt verschiedener, stets unumkehrbarer Bedrohungen zeigt, vom „global warming“ über die Erschöpfung der Rohstoffquellen bis hin zur Hochrechnung aller harten Folgen der jüngsten demographischen Trends. Vor dem Horizont dieser anderen Zukunft, die maximale Erfolge auf die Abwendung des Schlimmsten beschränkt, sind Politik im klassisch-aufklärerischen Sinn und ihre Rituale zu einer unerreichbaren und sich rasch entziehenden Vergangenheit geworden. Man kann unter ihren Voraussetzungen nichts als konservativ sein, was nun aber keinesfalls mehr bedeutet, sich dem Fortschritt zu verweigern. Konservativ sein heißt unter post-politischen Bedingungen vor allem, in Erinnerung an die politische Zeit solange als möglich an ihren (unrealistisch gewordenen) Versprechungen festzuhalten.
So wie Nietzsche für Heidegger zugleich der letzte metaphysische und der erste nicht-metaphysische Philosoph war, kann man Barack Obama als den letzten politischen Charismatiker und zugleich als den ersten post-politischen Voll-Pragmatiker ansehen. Wenn die Vereinigten Staaten aus ihrer Vergangenheit einen Aspekt von Führung und Avantgarde ins einundzwanzigste Jahrhundert gerettet haben, dann liegt er in der Brutalität, mit der sich die alternativenlose Zukunft des Post-Politischen über das Land und seine Gesellschaft gelegt haben: in einer Schuldenlast, deren Quantität und Folgen jegliche Vorstellungskraft (nicht nur jede Ausgleich-Möglichkeit) überschreiten; in einer Militär-Technologie, deren Leistungen ans Wunderbare grenzen, aber doch immer nur das Schlimmste abwenden können; vielleicht ja auch in einer Ordnungskraft des Staates, die sich immer mehr aus dem Alltag zurückzieht, bis auch klassische Staats-Funktionen (wie Passkontrolle oder Steuereinzug) privatisiert worden sind. Vielleicht wird dieses komplexe und spannungsvolle Profil eines zukünftigen Tages die Größe von Barack Obama markieren – wenn dann Motivation und Zeit für solche Rückblicke noch gegeben sind.
Jener Obama aber, den die allermeisten Europäer lieben wollen (und gelegentlich mit einem Sozialdemokraten verwechseln, weil ein Afro-Amerikaner, stellen sie sich vor, doch eher „links“ sein muss), ist allein Barack Obama, der letzte charismatische Politiker. Und jenes Amerika, dessen Untergang sich ebensoviele Europäer wünschen, ist das Amerika, auf das sich der post-politische Obama konzentriert – weshalb dem Präsidenten, wenn immer er aus dieser seiner eigenen Alltags-Perspektive in den Blick kommt, dieselbe Häme gilt, unter der sein Land heute gerade in Europa steht. Diese eigentümliche Verwindung, welche sich in der Tat als konvexes Komplement zu Obamas paradoxalem Profil identifizieren lässt, hilft den Europäern derzeit noch zu übersehen, dass sich die Form ihrer eigenen Zukunft von der Form der amerikanischen Zukunft gar nicht mehr unterscheidet. Auch sie ist eine von unabwendbaren Bedrohungen erfüllte Zukunft, in deren sich für Politik haltender nach-politischer Wirklichkeit die Gestalten grau und auswechselbar werden, weil sie die erinnerten Werte der Aufklärung und einen gegenwärtigen Minimalismus der Ziele ineinander übergehen lassen (so wie Salatsoße und Bratensoße), statt im Obama-Stil der Komplexität eines markanten Gegensatzes zu leben.
Obamas zweite Präsidentschaftszeit könnte zu einem Experiment werden, die uns ahnen lässt, in welcher Richtung post-politische Politik sich entfalten muss und zu entfalten vermag. Als eine Konstellation hingegen überraschender Schwäche und überraschenden Risikos hatte sich für ihn – trotz des überraschend überraschungslosen Endes – die Zeit des Wahlkampfes herausgestellt. Denn das ist (prinzipiell und natürlich in diesem speziellen Fall) die Zeit eines Rituals, welches noch ganz unter den Vorzeichen des Politischen steht, also auf die Frage ausgerichtet ist, wie ein Politiker in der Vergangenheit die Zukunft jener Vergangenheit, nämlich die eigene Gegenwart, geformt hat. Dieses von Mitt Romney dem Präsidenten beständig entgegengehaltene Kriterium hatte den post-politischen Barack Obama sichtbar in einem Maß irritiert, das durchschlug auf seine Argumente und auf seine Rhetorik. Der post-politisch konservative Obama schien gelähmt, wenn ihm Standard-Erwartungen aus der Zeit des Politischen entgegengehalten wurden, deren Erfüllung sich zuzutrauen, nur dem Herausforderer erlaubt sein konnte. Über immer länger wirkende Wochen und Monate wurde diese unaufhebbare Schwäche des Präsidenten zur einzigen Energiequelle des Gegenkandidaten.
Jetzt, da Romney die Wahl verloren hat, wird er – als ausschließlich konvexe Gestalt – so schnell aus unserer Erinnerung schwinden wie andere konvexe Phänomene des ausschließlich Reaktiven, zum Beispiel die Amerika-Häme in Europa und ihre Hoffnung auf den Sturz der Vereinigten Staaten. Barack Obamas Schicksal aber ist gewiss noch unerfüllt – und auch für ihn selbst ganz unabsehbar.
Der Artikel erschien im FAZ-Blog von Hans Ulrich Gumbrecht, Nr. 84.
Bild: suzymushu/flickr.com