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Ogburn, William F. (1937): Foreword, in: Subcommittee on Technology to the National Resources Committee (Hrsg.): Technological Trends and National Policy, Including the Social Implications of New Inventions, Washington D.C.: US Government Print Office.
Schumpeter, Joseph (2006 [1912]): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck 1. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot
Howaldt, Jürgen/Jacobsen, Heike (Hrsg.) (2010): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden: VS-Verlag.
Howaldt, Jürgen/Schwarz, Michael (2010): Soziale Innovation im Fokus. Bielefeld: Transcript.
Zapf, Wolfgang (1989): Über soziale Innovationen. In: Soziale Welt, 40 (1/2), S. 170-183.
Lösungen von Problemen sind zumeist die nächsten Probleme. Die Erfindung einer Technologie ist immer auch die Erfindung der gesellschaftlichen Probleme der Technologie und letztlich des Unfalls, wie auch der französische Geschwindigkeits- und Unfallforscher Paul Virilio pointiert. Das Flugzeug erfand den Absturz, das Kreuzfahrtschiff den Untergang, das Atomkraftwerk die Kernschmelze. Unfälle und deren gesellschaftliche Folgen sind zu einer eigenen Schwerindustrie geworden.
Ähnlich geht es uns mit den aktuellen Herausforderungen wie der Energie, Gesundheit, Mobilität oder der Sicherheit. Hier laufen technologische Lösungsversuche – gesellschaftliche wie wirtschaftliche Erfolge werden jedoch eher sozial entschieden, vermutlich durch kommunikative und operative Inklusion, Hybridisierung und Systemisierung.
Das Neue geht schon mal vor. Die Zeit zwischen den raschen und überraschenden Lösungen beziehungsweise den wirklich pressierenden Krisen und den nachlaufenden Anpassungen von sozialen, das heißt wirtschaftlichen, politisch-regulatorischen und kulturellen Praxen wird als Problem gesehen und als „cultural lag“ bezeichnet. Darauf hat in den krisenerprobten 1930er Jahren der Soziologe William F. Ogburn hingewiesen. Diese Anpassungen können institutionelle, interaktionistische oder instrumentelle Innovationen sein wie neue Berufsbilder, Dienstleistungen, Regulierungen, Partizipationsarenen oder Austauschmodi.
Ogburn sprach hier noch unscharf von der Notwendigkeit des „Sozialingenieurs“. Auch der mitunter vergessene „Politische Unternehmer“ Schumpeters erlaubt eine Vorahnung, was ein Paradigmenwechsel von überschuldeten Sozialstaaten und kapitulierenden Märkten hin zu einer Gesellschaft der Sozialen Innovationen herausfordert. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit wird sich vermutlich nicht mehr länger in der Technologie- und Produktinnovation entscheiden, sondern an der Reduzierung des „cultural lags“ durch Soziale Innovationen.
Die Forschung zu Sozialen Innovation ist vielfältig und vieldeutig: In Deutschland 1989 mit Wolfgang Zapf eingeführt, blieb sie, wie auch jüngste Veröffentlichungen von Jürgen Howaldt und Kollegen belegen, unpräzis. Von der Nachhaltigkeitsforschung, der Arbeitsorganisations- und Managementtheorie, der Sozialen Ökonomie und Zivilgesellschaftsforschung über die Forschung zu regionalen und lokalen Entwicklungsprozessen, den NGOs, Protestbewegungen, der Bürgergesellschaft bis hin zu der Kreativitäts- und Dienstleistungsforschung sind viele Strömungen erkennbar; alles nur kein mainstream.
Ogburn startete damals mit 50 Beispielen Sozialer Innovation. Viele Bespiele folgten: Geld wie Leasing, Universitäten wie Duale Hochschulen, Autovermietungen wie Mitfahrzentralen für Omnibusse, politische Regulierungen wie ihre gesellschaftliche Re-Regulierung, (Sozial-)Versicherungen und deren Absicherungen, Währungsunionen und deren Auflösungen, Umweltbewegungen und Lobbygruppen dagegen, Gruppentherapien und Social Media sind Beispiele, die zumindest stofflich den Unterschied zu technologischen Innovationen zeigen. Sie funktionieren nur im und für das Kollektiv.
Soziale Innovationen können als resonante, kommunikativ- und operativ-infektiöse Ideen für einen gesellschaftlichen Wandel verstanden werden, die aufgrund von technologischen, ökologischen, politischen und Veränderungen der Gesellschaft – wie durch erlebbare Krisen – als nachlaufende Lösungen beziehungsweise Anpassungen der bisherigen sozialer und kultureller Praxen wirken. Nachhaltige gesellschaftliche Änderungen erfolgen durch die Entwicklung neuer Formen der Interaktion, der Institutionalisierung und der Instrumente. Soziale Innovationen basieren dabei besonders auf den Prinzipien der Inklusion, der Hybridisierung und der Systemisierung.
Soziale Innovationen entstehen – wie andere Innovationen auch – erst dann, wenn eine Idee einen eigenen „gesellschaftlichen Markt“, das heißt Käufer, Anwender oder Gesetze und Regulierungen, gefunden haben – und damit Nachahmer. Die schöpferische Änderung sozialer und kultureller Praxen kann im Schumpeterschen Sinne „zerstörend“ wirken – aber auch alternativ oder ergänzend. Wesentlich ist lediglich das Kriterium der angenommenen Neuheit der Gesellschaft, nicht der normativen, d.h. positiven oder negativen Bewertung. Diese erfolgt beobachterabhängig im Nachgang.
Der Trend wird klarer: Wir stellen um vom Fetisch der (technologischen) Lösungsproduktion auf Fantasien der (gesellschaftlichen) Problemorientierung: Ob Energie-, Mobilitäts-, Wasser- oder Demographie-Wenden, ob Wandel der Urbanität, des Klimas, des Verschuldungskapitalismus oder des Terrorismus: Der Übergang von einem wirtschafts- und ingenieurwissenschaftlichen Management des Industrie- und Finanzkapitalismus zu einem gesellschaftstheoretischen Management eines empathischen Kapitalismus wird spürbar – in Kapitalgesellschaften, Ministerien und Universitäten.
Die gute Nachricht: Unsere gesellschaftlichen Herausforderungen und Krisen von heute sind die Geschäftsmodelle und Exportschlager von morgen. Die These: Soziale Innovationen sind produktive Parasiten der Probleme – und damit Kassenschlager des Übermorgen.
Die schlechte Nachricht: Das Krankheitsbild des unternehmerischen beziehungsweise managerialen Autismus wird aussterben – entweder gesellschaftlich gesundet oder eben tatsächlich marktlich unverbesserlich aussortiert. Die jetzige Management-Generation wird post-asozial und beziehungsfähiger.
(1) Logik der Inklusion: Soziologen sprechen in modernen Gesellschaften von dem Primat der funktionalen Ausdifferenzierung – ohne Spitze, aber vielen Randgruppen. Dies erklärt den dringlichen Bedarf: Inklusion. Akteursbezogene Inklusionsstrategien machen Soziale Innovationen durch neue Arenen der Interaktionen wahrscheinlicher – zwischen Bürger und Start, Migranten und Einheimische, Unternehmen und Mitarbeitern, Behinderten und Nicht-Behinderten, Hauptschülern und Studierenden, Senioren und Kleinkindern, Eliten und anderen Randgruppen. Inklusion – bei Nutzung der Unterschiedlichkeit – ist die unheimliche Geheimwaffe. Beispiele: Social Media, Open Innovation, integrierte und intergenerative Betreuungskonzepte, Neo-Korporatismus, Open Government, Bürgerhaushalt.
(2) Logik der Hybridisierung: Organisationen und Sektoren brauchen zur Reproduktion ihre Grenzen zur Umwelt. Die Abgegrenztheit zwischen Staat, Markt, Familie und Zivilgesellschaft kommt nun selbst an ihre Grenzen: es geht nun um kluge, d.h. wiederum abgegrenzte Hybridisierungen – einerseits durch neue transsektorale Institutionen andererseits durch soziale Problemlösungen für wirtschaftliche Wertschöpfungsketten. Lösung sozialer Probleme zur Eröffnung neuer wirtschaftlicher Märkte ist die Antwort auf unterkomplexe „Corporate Social Responsibilty“. Nike kümmert sich um Gender-Forschung in muslimischen Ländern, wohl auch um irgendwann Women Sportswear zu verkaufen, kleinste Sozialunternehmen und größte Multis sorgen für Bildungs- und Finanzkonzepte zum Vertrieb von komplexen Bewässerungs- und Energiesystemtechnik in Äthiopien, Indien oder Pakistan. Das Hybrid durch Kooperationen zwischen Unverwandten: Public Private Partnerships, Wohlfahrtsverbände mit Sozialunternehmen und Konzernen, Stiftungen mit ehrenamtlichen Senioren, Parteien mit NGOs, Universitäten mit Entwicklungshilfeorganisationen und vieles mehr.
(3) Logik der Systemisierung: Innovationen finden an oder auf der Grenze statt. So sagt man. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird sich nicht mehr in der Technologie- oder Dienstleistungsinnovation allein entscheiden, sondern in dem Management zu komplexen integrativen Systemen von Technologie-, Dienstleistungs- und Sozialinnovationen. Intermodale Verkehrssysteme, dezentrale Energiesysteme mit intelligenten Netzen, multiinfrastrukturelle Stadtentwicklung, vor- und mitsorgende Gesundheitssysteme durch Sozialität statt bloßer Medizin oder empathischen Robotik.
Das deutsche Forschungsministerium wie auch die EU haben mit dem Umstieg der Förderlogik von Technologie auf gesellschaftliche Problembewältigung begonnen. US-Präsident Obama hat ein „Büro für Soziale Innovationen und Bürgerbeteiligung“ und einen „Fonds für Soziale Innovationen“ für Bildung und Erziehung, Gesundheit sowie wirtschaftliche Fragen eingerichtet. Die EU-Kommission zieht nun nach. In Deutschland gibt es Vergleichbares noch nicht.
Die Anforderungen für Entscheider im post-asozialen Management – jenseits der Moralisierung – sind simpel: Beziehungsfähigkeit und Grenzsensitivität, transsektorale Mehrsprachigkeit sowie Komplexitäts- und Ambiguitätsbewusstsein mit rekursiven Regulationen – also dem Wechselspiel von Lösungen und deren Problemen. Dann machen wir auch übermorgen Geschäfte – durch das Lösen sozialer Probleme.
Der Artikel erschien in der brand eins vom April 2012.
Bild: twm1340 / Flickr