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Bei der Übertragung von Souveränitätsrechten an die Europäische Union waren sich teils auch Vertreter der CDU und der Grünen einig. So stimmte der rechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Jerzy Montag, im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ im Juli den von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geäußerten Vorstoß für Volksabstimmungen zu Fragen der Europäischen Union zu. „Ich denke, Bundesfinanzminister Schäuble hat im Grundsatz recht, dass wir uns an die Arbeit machen müssen“, sagte Jerzy.
Vorgesehen ist im Grundgesetz ein Volksentscheid bei einer Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG. Ein zweiter Fall betrifft die Ablösung des Grundgesetzes durch eine Verfassung. Für eine Änderung des Grundgesetzes ist die Zustimmung des Bundestages sowie des Bundesrates erforderlich.
Organisationen wie die Grundrechtepartei treten ein für „für einen Volksentscheid gemäß Artikel 146 GG über das Grundgesetz als Verfassung des gesamten deutschen Volkes, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen wird."
In den vergangenen Monaten mehrten sich Rufe aus den Höhenlagen der deutschen Politik nach einem Referendum über den zukünftigen Kurs der europäischen Integration. Nachdem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Juni andeutete, dass die Deutschen früher oder später über eine neue Verfassung abstimmen müssten, um den Weg für eine gemeinschaftliche Haftung der Eurozonen-Länder zu öffnen, folgten im August der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle mit ähnlich lautenden Argumenten für eine Volksabstimmung zum weiteren europäischen Einigungsprozess.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 12. September seine Entscheidung zur Ratifizierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verkündet hatte, verebbten diese Rufe. Es geht scheinbar auch ohne: Der durch Beteiligung am ESM erlittene Verlust an demokratischer Selbstbestimmung bleibt nach Ansicht des Gerichts in den Grenzen dessen, was das Grundgesetz zulässt. Aber schon jetzt ist absehbar, dass in Zukunft höhere Haftungsgrenzen oder gar uneingeschränkte Haftung notwendig werden könnten. Diese würden die Budgethoheit des Bundestags weiter verkürzen; die Rufe nach einer direkten demokratischen Entscheidung deutscher Bürger darüber, wie weit die politische und wirtschaftliche Integration Europas gehen darf, werden dann wiederkehren.
Allerdings bestehen Zweifel daran, wie ernst die jüngsten Vorstöße gemeint sind. Im Vergleich zu anderen Demokratien in Europa und anderswo gibt es in der Bundesrepublik kaum Raum für die direkte Einbeziehung der Bürger in die Gesetzgebung. Die Demokratie in Deutschland ist schlichtweg nicht sehr direkt, und traditionell geriert sich die politische Klasse in Deutschland eher demophobisch – von erfolglosen Reformanstößen einmal abgesehen, die alle paar Jahre von verschiedenen Parteien – mit Ausnahme der Unionsfraktion – im Bundestag eingebracht werden.
Das Grundgesetz bestimmt zwar, dass die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, für Abstimmungen zu Grundsatz- und Sachfragen bleibt jedoch wenig Raum. Lediglich auf der Ebene der Bundesländer darf es von Zeit zu Zeit direkte Entscheidungen der Bürger zur verbindlichen Regelung gemeinsamer Angelegenheiten geben – die Volksentscheide über den Nichtraucherschutz in Bayern oder zur Finanzierung des Stuttgarter Bahnhofsumbaus erregten nicht zuletzt durch ihren Ausnahmecharakter Aufmerksamkeit.
Auf Bundesebene kennt die Verfassungsordnung nur zwei, besonders außergewöhnliche, Fälle, in denen das Volk direkt entscheiden soll: die Neugliederung des Bundesgebietes (Artikel 29) und die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung (Artikel 146). Selbst eine historische Ausnahmesituation wie der deutschen Wiedervereinigung war anscheinend nicht außergewöhnlich genug, um den Bürgern zu ermöglichen, nach Rückgabe der vollen nationalen Souveränität durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ihrem Land eine neue Verfassung zu geben. Die Forderung, die Wiedervereinigung zum Anlass eines demokratischen Gründungsakts zu nehmen – komplett mit verfassungsgebender Versammlung und Volksabstimmung über die durch sie erarbeitete Verfassung – fand einen ihrer entschiedensten Gegner im damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der sich 1990 erfolgreich gegen eine Neukonstituierung des deutschen Staates nach Artikel 146 durchgesetzt hatte.
Gleichwohl spricht Schäuble einen wichtigen Punkt an, nämlich dass die Dehnbarkeit des Grundgesetzes im Zuge zukünftiger weitergehender europäischer Integration bald ein Ende finden könnte. An dem Tag, an dem die Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an die Europäische Union ein Ausmaß annimmt, dass über die vom Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen zum Vertrag von Lissabon und dem EMS gezogenen Grenzen zur Wahrung der Budgethoheit des Bundestages hinausgeht, ist die Zeit reif für eine neue Verfassung, die, im Wortlaut von Artikel 146 „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Eine solche freie Entscheidung kann nur durch einen Volksentscheid zustande kommen. Sein Gegenstand könnte eine deutsche Verfassung sein oder auch die Verfassung eines europäischen föderalen Systems – oder beides. Bei dieser Gelegenheit könnten dann auch gleich Regelungen für Volksgesetzgebung mit Initiativerecht debattiert und gegebenenfalls in die Verfassung aufgenommen werden.
Aller berechtigter Kritik zum Trotze haben die erwähnten Abstimmungen in Baden-Württemberg und Bayern gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung willens und fähig sind, sich die nötigen Informationen zu beschaffen und zu verarbeiteten um eine halbwegs informierte Entscheidung zu Fragen zu finden, die sie direkt und wesentlich betreffen. Angstszenarien unreflektierter Mob-Herrschaft scheinen sich allemal nicht zu bewahrheiten.
Grafik: Bertram Rusch