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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Wer in den vergangenen Wochen alle Wellen der europäischen Empörung über die kollektiven wie individuellen Übergriffe des amerikanischen Geheimdienstes verfolgt hat, der musste – selbst aus gehöriger geographischer oder affektiver Distanz – einen fortschreitenden Wandel des Tons bemerken. Wenn das Maß, das Pathos und die diplomatischen Formen des Abreagierens zunächst an jene Zeit der Höchstspannung zwischen Nationalstaaten erinnerten, welche am Beginn des Ersten Weltkriegs zur Explosion kam, so werden mittlerweile die vielfarbig antiamerikanischen Positionen auf dem alten Kontinent von der Einschätzung in Schach gehalten, dass sich keine irreversible Beschädigung des westlichen Bündnisses ereignet hat. Auf der anderen Seite des Atlantiks ist an die Stelle eines zuerst eigenartig ostentativen Unverständnisses im Blick auf die europäische Irritation, nun doch – über die derzeit besonders tiefen innnenpolitischen Gräben hinweg — eine gewisse Verstehensbereitschaft getreten.
Aber trotz dieser Abschwünge sind die Medien – vor allem in Europa — nicht imstande, das Thema von der Tagesordnung zu nehmen. Das Geschehene lässt sich nicht so einfach „abschieben“, wie man früher enttarnte Spione loswurde, obwohl einerseits kaum noch Aufklärungs- oder Entschuldigungs-Bedarf besteht und andererseits deutlich ist, dass jedes weitere Wort von offizieller Seite die Krise hinauszögern, ja vielleicht sogar verschärfen könnte.
In der europäischen Abhör-Empörung und in den amerikanischen Reaktionen auf sie verbergen sich Problemschichten, die für beide Seiten wichtig zu sein scheinen, ohne dass sie bisher zur Sprache gekommen wären. Aus der Aufregung ist deshalb Entrüstung im spezifischen Sinn der Begriffs geworden: man echauffiert sich und weiß doch mittlerweile, dass die Aufregung andere Quellen haben muss als jene, die explizit diskutiert werden.
Auf der Suche nach den noch nicht ausgeräumten Gründen der Verstimmung kommen wir vielleicht einen relevanten Schritt weiter, wenn wir erst einmal die Frage zu beantworten versuchen, was diese Episode denn nicht war – und immer noch nicht ist. Obwohl die ersten Reaktionen ja genau dies implizierten, handelt es sich nicht mehr um ein Ereignis im Stil des großen Geheimdienst-Jahrhunderts.
Während alle Beziehungen zwischen Gesellschaften, welche Zeichen der Ausdifferenzierung eines politischen Systems zeigen, das Potential haben, Formen von Spionage-Verhalten auf den Weg zu bringen, gibt es in der westlichen Geschichte doch eine erste einschlägige Intensivierungsschwelle im Zeitalter des Absolutismus mit seiner Konzentration der Macht und ihrer Kommunikationszirkel auf sehr enge Kreisläufe (nicht zufällig liegt hier auch eine Schwelle in der Entwicklung der Diplomatie). Deren Effekt wurde dann gesteigert im späten neunzehnten Jahrhundert durch das Spannungskonzert zwischen Nationalstaaten mit militärisch vergleichbarer Stärke und unter neuen technologischen Voraussetzungen, welche „Überraschungsangriffe“ zu einer allgegenwärtigen Drohung machten.
Die Spanne zwischen den Kriegen in der Mitte des neunzehnten und dem Ende des kalten Krieges im späten zwanzigsten Jahrhunderts war deshalb – mit zugleich gegenläufigen und konvergierenden Effekten – das Zeitalter der politischen Bündnissysteme und das Zeitalter der Geheimdienste. Denn Bündnissysteme wie Geheimdienste sollten die Möglichkeit von Überraschungsangriffen eliminieren. Innerhalb solcher historischer Bedingungen wäre die Überwachung des Regierungschefs einer offiziell befreundeten Nation tatsächlich ein ernstzunehmender Vertrauensbruch gewesen.
Genau dieser historische Rahmen wurde zwar im Kontext des gegenwärtigen Überwachungsskandals auf der diplomatischen und auf der Ebene der politischen Kommunikation zunächst immer wieder evoziert, aber inzwischen hat man wohl verstanden, dass er nicht der für ernsthafte politische Urteile zu veranschlagende institutionelle Kontext ist. Symmetrische Antagonismen mit wechselseitiger Abschottung der Kommunikation sind in der Gegenwart nicht ganz verschwunden (im sozusagen „klassischen“ Spannungsverhältnis zwischen Israel und Iran etwa existieren sie fort) — sie haben aber heute den Status von politischen Ausnahmesituationen.
Nirgends ist am Ende des Kalten Kriegs zwar eine Auflösung der nationalen Geheimdienste diskutiert worden (was ja durchaus eine Reflexion wert gewesen wäre), doch in den allermeisten Nationen haben die Geheimdienste aufgrund ihrer neuen Funktionszuweisung – sie sollen breit angelegte Aufklärungsarbeit in der asymmetrischen Kriegsführung gegen den internationalen Terrorismus leisten — einen profunden Funktionswandel durchlaufen. Zugleich hat ihre Macht – und zwischen den beiden Innovationen besteht wohl kaum ein kausaler Zusammenhang – durch die Entwicklung elektronischer Technologie eine ungeahnte Steigerung erfahren. Die Funktion der Geheimdienste ist also weniger spezifisch als je zuvor; ihre vage neue Aufgabe macht den Schritt von fokussierter zu totaler Überwachung plausibel; und mit der Elektronik sind ihre Macht und ihre systemische Unabhängigkeit gewachsen.
Hier stoßen wir, meine ich, auf eine erste verborgene Schicht der Abhör-Irritation. Die Frage nach der Funktionszuweisung und Kontrolle der früheren Geheimdienste innerhalb der gegenwärtigen weltpolitischen und technologischen Lage ist einerseits ein Problem, das sich nirgendwo mit derselben Intensität stellt (oder stellen sollte) wie in den Vereinigten Staaten; aber andererseits wird in den Reaktionen der europäischen Politiker deutlich, dass auch sie mit dieser – unbeantworteten – Herausforderung durchaus vertraut sind.
Wusste die Bundeskanzlerin von den Hubschrauber-Überflügen der Botschaften und Konsulate verbündeter Nationen? Hätte sie solche Aktionen problemlos unterbinden können? Man gewinnt den Eindruck, dass kaum eine Regierung heute auf die Leistungen ihrer Geheimdienste verzichten könnte (oder doch wenigstens verzichten möchte) — aber an solche Leistungen ist inzwischen allenthalben ein ungelöstes Problem der Kontrolle gebunden. Anders (und paradoxal) gesagt: wer heute als Politiker Kontrolle ausüben möchte, muss Funktionssysteme nutzen, die sich der eigenen politischen Kontrolle entziehen.
Ebenfalls paradoxalerweise haben aufgrund dieser Situation die beiden im Konflikt stehenden Seiten Anlass – und eine gewisse Berechtigung, der jeweils anderen Seite mangelndes Vertrauen vorzuwerfen. Die Bundesregierung kann der amerikanischen Regierung – mit Recht – vorwerfen, sie behandelt zu haben wie einen unzuverlässigen Bündnispartner in der großen Zeit der Geheimdienste (mangelndes Vertrauen trotz eines bewährten Bündnisses). Aber auch die amerikanische Regierung kann der Bundesregierung – und der deutschen Öffentlichkeit – ankreiden, dass sie auf letztlich dysfunktionale Nebeneffekte der Terrorismusbekämpfung so reagiert haben, als befinde man sich noch im Kalten Krieg (Überreaktion bei einem unter heutigen Bedingungen irrelevanten Lateralschaden).
Hingegen scheinen Amerikaner toleranter als Europäer – wenigstens als die Europäer unserer Gegenwart – gegenüber außen- oder verteidigungspolitisch motivierten Interventionen zu sein (schon in den Verfassungsdokumenten der Vereinigten Staaten werden ja die Bedingungen für mögliche Einquartierungsmaßnahmen von Soldaten detailliert beschrieben). Solange elektronisch ausgerüstete Geheimdienste im „Kampf gegen den Terrorismus“ erfolgreich sind, verhält man sich ziemlich tolerant gegenüber Maßnahmen, welche die meisten Europäer als Verletzung der Privatsphäre ansähen. Der Name „Office of Homeland Security“ klingt also in den meisten europäischen Ohren aggressiver, als ihn Amerikaner heute wahrnehmen.
Natürlich würden sich viele Millionen meiner amerikanischen Mitbürger verbitten, unter eine solche Typologie subsumiert zu werden. Viele von ihnen sympathisieren mit der europäischen Entrüstung während dieser Wochen – und sehen in dem Erstaunen unserer Regierung angesichts der Entrüstung nur ein weiteres Symptom für die Dekadenz der eigenen Demokratie, einen weiteren Schritt in einem progressiven „outsourcing“, in einer immer mehr um sich greifenden Ersetzung demokratisch kontrollierter Staats-Organe durch rein funktionsbezogene unabhängige Institutionen.
Die jüngste Entwicklung des Geheimdienstes, genauer: der politische Kontrollverlust in Bezug auf den Geheimdienst erschiene dann als das – weitere – Paradox eines innerhalb des Staates zu verzeichnenden „outsourcing“. Wer die Dinge – das heißt: die in der wechselseitigen Abhör-Entrüstung verborgene Irritation — so sieht, der könnte im Blick auf die deutsche Geschichte sagen, dass die Vereinigten Staaten mit ihrem „reeducation“-Programm nachhaltig erfolgreich gewesen sind — über Jahrzehnte, in denen ihre eigenen demokratischen Grundbestände verloren gingen.
Aber dies wäre ein historisches Urteil in der Tonlage jenes „moral highground“, der einst die Vereinigten Staaten als eine von religiösen Extremisten gegründete Nation kennzeichnete — und den wir mittlerweile verloren haben, glücklicher- oder unglücklicherweise. In Europa hingegen – vor allem in Deutschland – hat er heute Konjunktur.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: francediplomatie (CC BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: zorro delavega (CC BY 2.0) Abandoned.be (CC BY-NC-ND 2.0)